„Wir haben da eine ganz unschöne Entdeckung machen müssen,“ eröffnete der Experte seinen Bericht, zögerte dann aber damit, seine Ausführungen fortzusetzen.
Das lag offenkundig nicht daran, dass er die Übersetzung abwarten wollte; denn auch nach deren Abschluss suchte er erkennbar nach Worten.
Nicht nur Rogge war gespannt darauf, was nun folgen würde.
Der Beamte lehnte sich zurück und war sich offensichtlich der Spannung bewusst, die er mit seinem Zaudern auslösen musste. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, seine Unsicherheit offen zu legen. An seinen Vorgesetzten gewandt erkundigte er sich offenkundig jetzt zunächst ausdrücklich danach, ob er die Details seiner Erkenntnisse vor den ausländischen Kollegen so ohne weiteres ausbreiten dürfe.
Jedenfalls entnahm Rogge dies aus der Reaktion Woronins und dem Umstand, dass das, was er gesagt hatte, ebenso wenig übersetzt wurde, wie die Entgegnung des Polizeioffiziers.
Dem gelang es nur mühsam, seine Verlegenheit angesichts dieser neuerlichen Peinlichkeit zu überspielen. Er entschloss sich aber dazu, seinen Gästen reinen Wein einzuschenken.
„Herr Ansib hat Zweifel daran, dass er seine Erkenntnisse vor Ihnen offen legen darf. Ich habe ihm das soeben ausdrücklich gestattet.“
Während Rogge und seine Begleiter sich darum bemühten, einander keine vielsagenden Blicke zu zuwerfen, nahm der Sprengstoffexperte seinen Bericht wieder auf.
Rogge nahm sich gleichwohl vor, sich in einer ruhigen Minute bei der Übersetzerin danach zu erkundigen, ob sein Kollege das vorangegangene Gespräch zwischen den beiden inhaltlich richtig wieder gegeben hatte.
Ihm war aufgefallen, dass die junge Frau dabei spontan ihren Blick gesenkt hatte.
Zunächst aber konzentrierte er sich auf das, was der Beamte zu berichten hatte.
Dabei erfuhren er und seine Begleiter von der Hausdurchsuchung, die im Zuge der Festnahme der Studentin bei ihr und ihren Freunden durchgeführt worden war.
Zur Überraschung der Ermittler hatte diese Untersuchungen zur Entdeckung von Sprengstoffspuren geführt und Anhaltspunkte dafür geliefert, dass die Wohnung der angeblichen Studentin als eine Art Hobbywerkstatt für Feinmechanik genutzt worden sein könnte.
Während die Sprengstoffspuren Ähnlichkeiten zu den Funden aufzuweisen schienen, die kürzlich im schwedischen Oskarshamn sicher gestellt worden waren, deuteten die Materialfunde auf eine Verbindung nach Deutschland hin.
Jedenfalls wies das unter eine Holzdiele in einer Lederhülle eingewickelte Werkzeug Deutschland als Herkunftsland aus.
Rogge glaubte im gleichen Augenblick zu verstehen, warum der Beamte sich ausdrücklich die Genehmigung hatte geben lassen, diese Information vor den Kollegen aus Deutschland auszubreiten.
Wie er noch begreifen sollte, irrte er sich jedoch gründlich.
Doch zunächst einmal wurde die kleine Runde von einem ganz anderen Ereignis gestört.
Ohne Anzuklopfen stürzte die Beamtin ins Zimmer, von der die früheren Befragungen der Studentin geleitet worden waren.
„Die Studentin hat versucht sich umzubringen,“ meldete sie atemlos und gab sich keinerlei Mühe, ihre eigene Fassungslosigkeit zu verbergen.
Obwohl die Mitteilung nicht übersetzt worden war, hatte Rogge keinerlei Mühe gehabt, den Sinn der Worte zu erfassen.
„Sie hat was?“, fragte er gleichwohl auf deutsch zurück und erntete damit zunächst nur einen verständnislosen Gesichtsausdruck der jungen Beamtin.
Nachdem die Übersetzerin seinem Nichtverstehen ein Ende bereitet hatte, klärte sie ihre Zuhörer in knappen Worten, die nunmehr zügig übersetzt wurden, über das auf, was sich nach ihrer Kenntnis gerade abgespielt hatte. Gleich nach der Beendigung der Befragung hatte sie die junge Frau zu deren Haftzelle begleitet. Die Studentin hatte gleich darauf darum gebeten, etwas zu trinken zu bekommen. Sie hatte dafür gesorgt, dass dieser Wunsch erfüllt wurde. Die Studentin hatte dann aber das Glas Wasser zunächst doch noch unangetastet gelassen und sich statt dessen danach erkundigt, wie lange sie noch hier bleiben müsse und was jetzt mit ihr geschehen würde. Nur wenige Augenblicke später hatte die Beamtin das Gespräch unterbrechen müssen, da ein Kollege an der Tür geklopft hatte, um ihr mitzuteilen, dass sie dringend am Telephon verlangt werde. Der Anrufer hatte zwischenzeitlich jedoch bereits wieder aufgelegt. Als sie gleich daraufhin wieder die Zelle betreten hatte, fand sie die junge Frau von Krämpfen geschüttelt auf dem Boden liegend auf. Dem Anschein nach, war sie einer Vergiftung erlegen. Ob die Studentin sich das Gift selbst zugeführt hatte oder ob es sich bereits im Glas befunden hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Die Beamtin hatte aber keinen Zweifel, dass die junge Frau das selbst eingenommen haben musste.
Rogge spürte deutlich, wie sein Blutdruck anstieg.
Ihn beschlich ein äußerst mulmiges Gefühl. Da taucht eine wichtige Zeugin auf, die völlig überraschend ihn persönlich belastende Aussagen macht und kaum sind diese Angaben zu Protokoll genommen, da verschwindet die Zeugin wieder und das gleich auf nimmer Wiedersehen, gerade so, als hätte es sie nie gegeben. Was bleibt, ist lediglich die Anschuldigung und die war bei Licht besehen ja äußerst schwerwiegend. Wenn sich die estnischen „Kollegen“ nun ohne weitere Umschweife als KGB-Agenten zu verstehen gegeben und ihm eine Verpflichtungserklärung vorgelegt hätten, so wäre die Welt für den Polizeioberrat schon fast wieder in Ordnung gewesen.
Verschwörungstheorien waren schon immer seine Stärke gewesen.
Rogge atmete tief durch.
Ein Blick auf seine beiden Kollegen verriet ihm, dass diese auf die Meldung ähnlich schockiert reagierten wie er selbst.
Und auch die drei estnischen Polizisten machten keinen Hehl aus ihrer Betroffenheit.
Doch noch ehe die Beamten dazu kamen, sich gegenseitig ihre Betroffenheit und Anteilnahme zu bekunden, hielt die Verhörbeamtin noch eine weitere Neuigkeit für sie bereit, auf die abermals Rogge nicht vorbereitet war, und die ihn folglich in Bedrängnis bringen sollte.
Erst jetzt fiel dem Oberrat auf, dass die junge Beamtin es für nötig gehalten hatte, in Begleitung von zwei Uniformierten den Raum zu betreten.
Beide hatten sich nicht über die Türschwelle begeben, sondern dort das weitere Geschehen abgewartet.
Während ihr Vorgesetzter sichtlich nach den richtigen Worten suchte, hatte sie die Neugier überwältigt und dazu veranlasst, einen Schritt vorzutreten.
„Da wäre noch etwas.“
Die Vernehmungsbeamtin zeigte deutlich Spuren von Unsicherheit.
Vielleicht aber auch nur, um der nun folgenden Mitteilung die wünschenswerte Aufmerksamkeit zu sichern, brach sie nach diesen Worten ab und wartete auf ein Zeichen ihres Vorgesetzten, weitersprechen zu dürfen. Woronin schien einen Moment zu brauchen, bis er begriff.
Doch dann forderte er seine Untergebene mit einer einladenden Handbewegung zum Weitersprechen auf. „Bevor sie versucht hat sich umzubringen, hat sie noch etwas zu Protokoll gegeben.“
Erneut unterbrach sich die Verhörbeamtin und provozierte damit eine Geste des Unverständnisses auf Seiten des Polizeioffiziers.
„Nun reden Sie schon!“
Rogge wurde das Gefühl nicht los, dass es sich hierbei um ein einstudiertes Verhalten handelte.
Die jeweiligen Beiträge waren nach seinem Eindruck sorgfältig aufeinander abgestimmt und so dosiert, dass die Übersetzerin keinerlei Schwierigkeiten hatte, das Gesagte weiterzugeben.
„Sie hat ausgesagt, dass dieses Werkzeug ihr ebenfalls von Herrn Rogge übergeben worden ist.“
Der Beschuldigte spürte, wie sich die Blicke aller Anwesenden geradezu klettenartig an ihn zu heften begannen. Er spürte auch, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten und die Innenflächen seiner Hände begannen feucht