Das Taxi fuhr den inzwischen vertrauten Weg zum Flughafen Heathrow, den er fast schon auswendig kannte. Sabines Job zog sich mehr und mehr in die Länge, was ihm ebenfalls langsam auf die Nerven ging, er aber niemals zugegeben hätte. Wie die temperamentvolle Sabine darauf reagieren würde, konnte er sich lebhaft vorstellen. Nein, auf eine Szene konnte er gerne verzichten. Er gab sich ihr gegenüber als verständnisvollen Partner, der ihr den Rücken stärkte und dem es nach außen hin nichts ausmachte, bereits zum fünften Mal zu ihr nach London zu reisen.
Das Taxi war in Heathrow angekommen. Leo bezahlte, ohne darauf zu achten, wie hoch die Summe in Euro war, was für ihn als Schwabe außergewöhnlich war. Sollte der Typ ihn doch übers Ohr hauen, das war ihm jetzt auch egal. Sonst achtete er normalerweise auf jeden Cent, was ihm oft den Spott der bayerischen Kollegen und Freunde einbrachte.
Gepäck hatte Leo nicht bei sich, deshalb checkte er sofort ein. Das Wenige, das er übers Wochenende brauchte, passte locker ins Handgepäck. In London war es, wie zuhause auch, im Mai seit Tagen ungewöhnlich heiß geworden, weshalb er die Lederjacke auszog und locker über die Schulter hängte.
Die Sicherheitskontrolle war heute abermals völlig überzogen und lächerlich, er musste sogar seine Stiefel und Strümpfe ausziehen. Was sollte er hierin schmuggeln? Ob er dem Mann sagen sollte, dass auch er Polizist war? Was würde das ändern? Der freundliche, aber distanzierte Beamte hatte noch nicht genug gesehen und bat Leo ins angrenzende Zimmer. Was sollte der Scheiß? Musste er sich jetzt auch noch ausziehen?
Der englische Kollege ging wieder und Leo musste lange warten. Dann kam endlich ein Mann um die vierzig ins Zimmer, der in zivil gekleidet war und es nicht für nötig befand, sich vorzustellen. Er nickte nur und nahm wortlos Leos Personalausweis vom Tisch, den er ausgiebig studierte.
„Brieftasche!“, sagte er auf deutsch.
„Können Sie mir sagen, was…?“
„Brieftasche!“, wiederholte der Mann, der Leo dabei abschätzend ansah und dabei auf seinem Oberkörper hängenblieb.
Jetzt bekam Leo so langsam eine Ahnung, worum es ging: Es war das T-Shirt! Darauf war die Queen unvorteilhaft mit dickem Hintern auf einem Motorrad abgebildet, wobei sie den Mittelfinger streckte. Als er das T-Shirt in einem kleinen Laden nahe der Oxford Street entdeckte, fand er das sehr witzig. Aber für den heutigen Tag war das mehr als unangebracht, er hätte sich mehr Gedanken darüber machen sollen. Aber das war nur ein T-Shirt, mehr nicht. Die Engländer waren doch als humorvoll bekannt. Ob der Humor endete, wenn es um die Queen ging? Leo zögerte. Sollte er sich bei dem Mann entschuldigen? Nein, warum sollte er? Er hatte das T-Shirt schließlich in London erstanden und auch bezahlt. Wortlos gab er dem Mann seine Brieftasche. Wieder ließ sich der Mann unendlich viel Zeit. Leo sah nervös auf die Uhr. Wenn das hier so weiterging, verpasste er mit Sicherheit seinen Flug.
„Sie sind Polizist?“
„Ja.“ Leo stellte sich auf eine heftige Auseinandersetzung ein, in der er nicht gedachte, klein beizugeben. Der Typ würde seine Machtposition voll und ganz ausnutzen, das konnte er an dessen Augen sehen. Wie weit würde er gehen?
Aber dazu kam es nicht. Die Situation wurde unterbrochen, denn von draußen drang ein ohrenbetäubender Lärm in den kleinen Raum. Kurz darauf folgte ein weiterer, dumpfer Knall. Männer und Frauen schrien hysterisch durcheinander, was von sehr lauten Zwischenrufen, die sich wie Befehle anhörten, begleitet wurde.
„What the hell….“, rief der Engländer und öffnete die Tür. Fassungslos starrte er nach draußen. Frauen und Männer liefen panisch durcheinander, viele schrien hysterisch.
Dann fielen vereinzelt Schüsse.
Die Männer sahen sich an, beiden waren Schussgeräusche nicht unbekannt. Ein Uniformierter rief dem Mann etwas zu, worauf der sich umdrehte und Leo, der ebenfalls vor die Tür getreten war, wieder unsanft zurückdrängte. Der Engländer schloss die Tür und verriegelte sie zusätzlich. Dann versuchte er, zu telefonieren, was ihm nicht gelang.
„Was ist los?“
„Keine Ahnung. Soweit ich es verstanden habe, gab es einen Anschlag.“
„Und was machen wir dann hier? Sollten nicht wenigstens Sie Ihre Kollegen unterstützen?“
„Wie denn? Ich bin unbewaffnet.“
Erst jetzt bemerkte Leo, dass der Mann tatsächlich keine Waffe trug. Panisch versuchte der Engländer zu telefonieren. Wieder und wieder wählte er verschiedene Nummern.
„Damn! Das Netz scheint überlastet zu sein.“
„Soll ich es versuchen?“
„Ihr Deutschen meint auch, dass ihr alles besser könnt, stimmt’s? Wenn ich kein Netz habe, dann haben Sie auch keins“, maulte der Engländer.
Leo ließ sich nicht provozieren und wählte zunächst Sabines Nummer, auch wenn er wusste, dass sie das Handy nicht eingeschaltet hatte. Dann wählte er die Nummer seines Freundes und Kollegen Hans Hiebler im bayerischen Mühldorf am Inn. Auch hier erreichte er nur die Mailbox. Danach versuchte er es bei seinem Chef Rudolf Krohmer, auch hier nur die Mailbox. Dass die beiden ihre Handys ausgeschaltet hatten, konnte Leo nicht ahnen. Für ihn sah es so aus, als wäre das Netz tatsächlich überlastet.
„Ich sagte doch, dass Telefonate momentan nicht möglich sind!“
Leo steckte das Handy wieder ein.
Während der Engländer auf und ablief, blieb Leo ganz ruhig.
„Was ist los mit Ihnen? Es gab offenbar einen Anschlag und Sie sitzen hier, als würde Sie das nichts angehen“, warf ihm der Engländer vor. „Ihr Deutschen seid wirklich eiskalt.“
„Was bringt es, wenn ich ausflippe und mich aufrege? Haben Sie einen Plan, wie es weitergehen soll? Wir sollten hier nicht nur untätig herumsitzen und warten.“
„Was soll ich für einen Plan haben? Ich sitze hier unbewaffnet und ohne Telefonverbindung mit einem arroganten Deutschen fest. Was denken Sie, was ich tun kann? Ihr Deutschen wisst doch immer alles besser. Raus mit der Sprache: Was schlagen Sie vor?“
„Dass Sie die Deutschen nicht mögen, habe ich verstanden, aber das ändert nichts an der momentanen Lage. Ich habe auch keine Patentlösung, aber wir könnten…“ In diesem Moment klingelte Leos Handy. Beide Männer sahen sich überrascht an.
„Grüß dich, Leo!“ Die fröhliche Frauenstimme kannte er sehr gut.
„Christine?“ Die vierundsechzigjährige Christine Künstle war schon seit vielen Jahren Leos beste Freundin. Er hatte lange mit ihr während seiner Ulmer Zeit zusammengearbeitet und schätzte sie sehr. Nicht nur als Pathologin, sondern vor allem als Mensch. Der Kontakt riss auch nicht ab, als er nach Bayern strafversetzt wurde, was mit einer Herabsetzung des Dienstgrades einherging. Vor einem Jahr wurde Christine pensioniert, womit sie anfangs ganz schön zu kämpfen hatte. Sie langweilte sich. Dann rappelte sie sich auf und gab Seminare, die sehr gut angenommen wurden. Inzwischen hatte sie Gastprofessuren an zwei Universitäten, die ebenfalls sehr gut besucht waren. Trotzdem hatte sie immer noch zu viel Zeit, mit der sie nichts anzufangen wusste.
„Jetzt staunst du, gell? Da du mich schon seit Monaten sträflich vernachlässigst, habe ich mich mit Gerda verbündet. Wir wollen dich in München abholen. Wann landet dein Flieger?“ Der schwäbische Dialekt und die fröhliche Natürlichkeit der Freundin taten ihm gut. Trotzdem musste er ihr die Wahrheit sagen.
„Ich bin noch am Flughafen Heathrow. Es gab einen Anschlag. Hör zu, ich brauche deine Hilfe.“