Seltene Mädchen. Raya Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Raya Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748519669
Скачать книгу
Thema. Ich war den Schlussfolgerungen nicht gewachsen. Aber so weit dachte ich erst gar nicht nach.

      Um mich sicherer zu fühlen, ließ ich meinen Intellekt in einer anderen Richtung suchen. Wie funktionierte das alles? Was genau geschah dabei? Aus dem einen Kind wurde eine Frau, aus dem anderen Kind ein Mann. Es gab Spermien und Eizellen, das wusste jeder. Aber wie sah es im Unterleib einer Frau aus und wozu diente was? Was wusste ich als Sechzehnjähriger eigentlich darüber? Ich kramte in meinem Gedächtnis nach den Fetzen, die ich aus Büchern und Zeitschriften, aus Biologiestunden und Gesprächen mit Ansgar gesammelt hatte und die ich nun zu einem Ganzen zusammenzusetzen versuchte.

      Dass es im Pfarrhaus alle Arten von Aufklärungsliteratur gab, war kein Geheimnis. Bücher für Heranwachsende und für junge Paare, für die zweite Lebenshälfte und für das Vorschulalter. Es gab sogar solche mit kunstvollen Fotografien von nackten Liebespaaren sowie von werdenden und gebärenden Müttern. Das Richtige für mich, dachte ich mir, wäre ein Atlas von den menschlichen Geschlechtsorganen. Nachdem ich das Gesuchte gefunden hatte, vertiefte ich mich in die Schautafeln und Texte. Ich lernte bis tief in die Nacht hinein wie für ein Examen. Tatsächlich würde ich nach meinem Selbststudium bis zum Abitur von allen Mitschülern am besten Bescheid wissen, nicht nur über die Fortpflanzung, sondern auch über sämtliche Möglichkeiten, eine Schwangerschaft zu verhüten. Natürlich war mir nicht bewusst, dass ich mich keineswegs mit Gynäkologie befasste, sondern mit etwas, wofür es keine Bezeichnung gab, außer allenfalls Rahelogie. Ich hatte einen Anatomieatlas auswendig gelernt, dabei interessierte ich mich ausschließlich für die Scheide, Gebärmutter und Eierstöcke meiner vierzehnjährigen Schwester.

      Die Jungen in meiner Klasse waren ständig in Aufregung darüber, dass es nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen gab. Es gab die verschiedenartigsten Mädchen. Schöne, kluge, umgängliche, freche, reife Mädchen und viele andere mehr. Alle meine Klassenkameraden hielten ständig nach ihnen Ausschau, wie Weltraumteleskope nach fernen Galaxien. Sie schlichen ihnen nach, wagten es kaum, sie anzusprechen, hätten aber gern eines der Mädchen zur nächsten Party eingeladen, mit dem Ziel, es anzufassen und zu küssen, falls es sich nicht wehrte. Alle Jungen, die ich kannte, waren entweder mit Anbaggern beschäftigt oder aber damit, eine Abfuhr zu verdauen.

      Was war nur mit mir los? Ich fand den Umgang mit Mädchen nicht komplizierter als denjenigen mit Jungen. Nur hatte ich bei manchen Mädchen das Gefühl, es könnte schön sein, mit ihnen zu schmusen. Weil ich ihnen gerne in die Augen schaute. Weil ich ihren Geruch gerne roch. Weil ihre Haut so rein und so weich aussah. Ich war nicht schüchtern und glaubte zu wissen, wie ich vorgehen müsste. Wenn ich „ihr“ über eine gewisse Zeit Aufmerksamkeit schenkte, würde sie sich einladen lassen und mit mir irgendwo hingehen, wo wir uns umarmen und streicheln konnten. Ob das Mädchen meiner Wahl mich mögen würde, fragte ich mich nicht. Doch ich zweifelte auch nicht daran. Jedenfalls mochte ich Mädchen gerne, sah jedoch keinen Grund, mich näher mit ihnen einzulassen. Immer wieder zerbrach ich mir den Kopf darüber, warum alle Jungen hinter den Mädchen her waren, nur ich nicht.

      Hätte mich jemand gefragt: „Hast du schon ein Mädchen?“, dann hätte ich verneint. Ich hatte tatsächlich kein Mädchen, keine, mit der ich ging. Es war alles wie immer. Ich war noch nie verliebt gewesen. Ich hatte noch keinen Kuss erlebt. Ich sehnte mich nicht einmal nach einer Freundin. Doch den Grund dafür zu erkennen, war mir damals einfach verwehrt. Nichts lag mir ferner als die Vorstellung, Rahel und ich könnten ein Liebespaar werden.

      Eines Abends ging ich zu Rahel hinüber. Sie saß an ihrem Schreibtisch und lernte für die Schule. Das erstaunte mich ein wenig. Es war die letzte Schulwoche vor den großen Ferien und sie hatte ihr Zeugnis schon bekommen.

      „Kannst du in zehn Minuten wiederkommen? Dann bin ich mit allem fertig“, fragte sie mich, ohne sich umzudrehen.

      Ich setzte mich auf ihr Bett und antwortete: „Ich warte hier.“

      Sie murmelte etwas Unverständliches, das jedoch nicht abweisend klang. Also wartete ich und beobachtete sie, wie sie sich über ein Heft beugte, ein aufgeschlagenes Buch neben sich, und schrieb. Was für ein zartes Mädchen sie war! Von den Flügelchen auf ihrem Rücken wanderten meine Augen die Dornfortsätze ihrer Wirbelsäule entlang hinunter. Verwundert nahm ich wahr, dass sie eine Taille bekommen hatte und von hinten schon ein wenig wie eine Frau aussah. Auch ihr Gesäß war breiter und rundlicher geworden. Es war mir bisher nicht aufgefallen. Ich schloss die Augen, um mir den ungewohnten Anblick einzuprägen. Es klappte nicht beim ersten Mal. Immer wieder glitten meine Augen über ihre Rückseite und immer wieder betrachtete ich das Bild mit geschlossenen Augen. Ich fühlte einen Stich im Herzen. Ich fand, dass sie immer schöner wurde, und fragte mich, ob auch das, was ich empfand, immer stärker werden würde, je besser sie mir gefiel. Würde ich irgendwann in Ohnmacht fallen, wenn ich Rahel ansah? Oder würde ich bei ihrem Anblick ersticken? Ich stellte mir vor, sie stünde als antike Göttin auf einer Säule, und ich würde auf die Knie fallen und mich vor ihr verneigen.

      Ich hörte sie kichern und schlug die Augen auf. Jetzt stand sie vor mir. Kein Zweifel, sie war ein paar Zentimeter größer als noch an Weihnachten.

      „Bist du eingeschlafen?“, fragte sie.

      Ich richtete mich auf und schüttelte den Kopf. Eine Weile lang schauten wir uns nur an.

      „Du bist das schönste Mädchen, das ich kenne“, stieß ich hervor.

      „Hör auf damit! Mirjam und Esther sind viel hübscher.“

      Ich dachte nach und erwiderte:

      „Ja, vielleicht. Kann sein, dass Mirjam und Esther hübscher sind als du. Aber hübsch ist nicht dasselbe wie schön. Hübsche Mädchen gibt es wie Sand am Meer. Schöne Mädchen sind selten. Du bist ein seltenes Mädchen, Rahel.“

      Sie zog die Augenbrauen hoch und musterte prüfend mein Gesicht. „Ehrenwort?“, fragte sie plötzlich. Ich hob die rechte Hand und streckte zwei Finger in die Luft.

      „Ehrenwort!“

      Wieder kicherte sie.

      „Du bist sicher nicht gekommen, um mir zu sagen, dass ich ein seltenes Mädchen bin …“

      „Ich wollte dich fragen, ob du mich deine Muschi angucken lässt.“

      „Meine Muschi? Was ist mit meiner Muschi?“

      „Ich weiß nicht, wie sie aussieht.“

      Sie lachte laut auf. „Ich weiß auch nicht, wie meine Muschi aussieht.“

      Was wollte sie damit sagen? Verspottete sie mich?

      Rahel schien meine Gedanken zu lesen.

      „Das ist kein Witz. Ich habe meine Muschi noch nie gesehen. Ich komm da nicht hin, ich kann mich noch so krumm machen.“

      „Dann können wir sie zusammen angucken“, schlug ich vor.

      Sie setzte sich zu mir auf die Bettkannte und wir überlegten gemeinsam, wie wir es am besten anstellen und was wir dazu brauchen würden. Aus unseren Federbetten würden wir ein Polster formen, damit sie sich mit gespreizten Beinen aufrecht auf das Bett setzen konnte. In Esthers Zimmer hing ein großer Spiegel an der Wand. Wenn wir den Stuhl ans Bett heranzögen, könnten wir ihn dagegen lehnen. Die Lampe mit den drei schwenkbaren Spots aus dem Musikzimmer würde genug Licht abgeben. Wir würden unser Spiel aber heute nicht spielen können, weil zu viele Personen im Pfarrhaus umhergingen. Rahel nannte diese Untersuchung tatsächlich „unser Spiel“. Wir beschlossen, den nächsten Gottesdienst zu schwänzen. Wir würden uns unserem Spiel widmen, während die anderen in der Kirche saßen.

      Doch bevor es soweit war, kam uns der Zufall zu Hilfe. Das war am Abend des letzten Schultags. Unsere älteste Schwester Esther berichtete bei Tisch von ihrem Besuch bei der Gynäkologin. Es hatte sich um eine Routineuntersuchung gehandelt. Die Ärztin hatte ihr gezeigt, wie sie sich selbst untersuchen konnte und ihr ein Spekulum mitgegeben, ein einfaches aus transparentem Kunststoff.

      „Ich leihe es euch auch gerne aus, aber macht es nicht kaputt“, warf sie in ihrer provokanten Art in die Runde, ohne sich an eine bestimmte Person zu richten. Wer würde sich als Nächstes