Der Lauf der Zeit. Friedrich von Bonin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich von Bonin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737566353
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in die siebte, achte, er las, half seinem Vater in Gedanken beim Wiederaufbau der Güter, spielte Indianer, kam in die neunte Klasse.

      In der neunten Klasse blieb sein Freund Hans sitzen, Bruno hatte niemanden mehr, mit dem er zur Schule fuhr. Darüber hinaus war nur noch ein Schulkamerad außer ihm „Fahrschüler“, alle anderen waren aus Hermstadt. Das waren Söhne und Töchter von Rechtsanwälten, Zahnärzten, Ärzten, alles Kinder, die sich ihres Status sehr sicher waren und auf ihn, Bruno, herab sahen. Er war adelig und kam vom Dorf, nicht aus der Stadt und man sah ihm an, dass seine Eltern arm waren, der größte Fehler. Isoliert gingen die beiden „Fahrschüler“, Hermann Ahlers und Bruno, über den Pausenhof. Ahlers war zwei Jahre älter als Bruno und interessierte sich schon für Mädchen. „Wie findest du die?“, fragte er eines Tages Bruno: „Ich finde, das ist die schönste Frau auf der Schule“. Bruno sah kaum hin. Ein etwas schleichender Gang, ja, ein hübsches Gesicht, mehr registrierte er nicht. Sie hieß Margarete, ließ er sich von Ahlers sagen, war gerade aus der DDR gekommen und ging mit Hans-Hermann, einem Apothekersohn, der zu den arroganten Söhnchen in seiner Klasse gehörte. Bruno interessierte sich nicht weiter dafür, akzeptierte aber achselzuckend, dass Ahlers ganz aus dem Häuschen war.

      In der Schule hatte er keine Freunde. In seiner Nachbarschaft wohnte Peter, den er in der Volksschule nicht kennen gelernt hatte, weil er katholisch war. Peter war wie Bruno etwa 15 Jahre alt, ging aber schon in die Lehre, lernte Elektriker und verdiente bei seinem Lehrherrn bereits eigenes Geld. Peter war klein, drahtig, sportlich, er verehrte Elvis Presley und Peter Kraus, konnte Twist tanzen und sich wie Elvis rückwärts biegen, bis er mit den Schultern fast den Boden berührte und dann wieder hoch kommen. Peter hatte schon Freundinnen, die er küsste. Abends gingen sie in die Kneipe, zu Gruber, tranken Bier und spielten Skat mit Karl, einem älteren dicklichen Uhrmacher mit blondem schütterem Haar, dünner Stimme und zitternden Händen. Anfangs vereinzelt, dann immer regelmäßiger, saßen sie bis Mitternacht und darüber hinaus in der Kneipe und spielten um die nächste Runde Bier, bis sie angetrunken waren. Anfangs fürchtete Bruno sich, der Vater könne schimpfen, weil er immer später nach Hause kam, nach Bier und Rauch stank. Als aber nach einigen Wochen keiner ein Wort über seine Gewohnheiten verlor, wurde Bruno sicherer. Nun kam er fast jeden Abend zu spät nach Hause, trank und rauchte.

      Die Quittung bekam er in der Schule: Zuerst nahmen sein Leistungen in Deutsch ab, seinem Lieblingsfach. Im deutschen Aufsatz hatte er selten eine Klassenarbeit mit einer schlechteren Note als gut zurückbekommen. Jetzt brachte ihnen der Deutschlehrer Besinnungsaufsätze bei. Die Themen waren nicht mehr „Dein schönstes Ferienerlebnis“ wo Bruno nach Herzenslust fabulieren konnte, sondern „Jugendherberge, Vorteile und Nachteile“. Da musste man Thesen zusammentragen und Antithesen, die man dann zu einer Synthese zusammenfasste. Bruno verstand das System nicht, war wohl auch wegen seiner Eskapaden zu müde, jedenfalls bekam er den ersten deutschen Klassenaufsatz mit mangelhaft zurück. Es folgte die Mathematikarbeit ebenfalls mit mangelhaft, ebenso oder schlechter in Englisch und Latein. Bruno versuchte sich zusammenzureißen, ohne rechten Erfolg. Im Herbstzeugnis stand dann das bedrohliche „Versetzung gefährdet“. Seine Eltern gingen zu den Lehrern, sie waren mit seinen Geschwistern Kummer gewohnt, aber doch nicht mit ihm, Bruno. Die Lehrer zuckten die Achseln. Ja, Bruno könne eigentlich mehr, sie wüssten nicht, woran es liege, im Augenblick reichten seine Leistungen nicht aus. Und keine Ermahnung der Eltern wegen der abendlichen Touren. Am Ende des Schuljahres blieb nur eine stille Hoffnung für Bruno: Alle Hauptfächer, Deutsch, Mathematik, Englisch und Latein, standen auf der Kippe. Alle konnten ihm ein ausreichend geben, dann war er gerettet und versetzt, alle konnten seine Leistungen aber auch mit fünf bewerten. Dann das Zeugnis: Alle vier Hauptfächer mangelhaft, und in Sport noch dazu: Sitzen geblieben.

      15.

      Bruno ging jetzt zum zweiten Mal in die zehnte Klasse, meinte, das könne er mit links schaffen. Er konzentrierte sich auf seine neuen Klassenkameraden. Bis auf Hans, den er dort wieder traf, kannte er keinen von ihnen. Gegen die Wiederholung der Klasse protestierte Bruno nicht mit neuer Leistungsverweigerung, sondern gab ab sofort die Kneipenbesuche mit Peter auf, weil er sich entschlossen hatte, die Schule erfolgreich zu Ende zu besuchen, Abitur zu machen, damit er einen Beruf wählen konnte, den er wollte. Die Tatsache, dass er sitzen geblieben war, hatte ihn zum ersten Mal über sich selbst nachdenken lassen, er hatte nach seiner Gewohnheit mit niemandem über seine neue Einstellung geredet, schon gar nicht mit den Eltern, sie war eine Folge seines Nachdenkens. Eine Form des Protestes gab es allerdings: Bruno wurde in der Schule widerständiger. Er, bei dem bisher, selbst im vorigen Jahr, in der Disziplin „Betragen in der Schule“ immer ein gut, wenn nicht sehr gut stand, bekam am Ende des Schuljahres in dieser Rubrik ein „nicht ohne Tadel“. Zum ersten Male hatte er über sich selbst nachgedacht und die Konsequenz daraus gezogen. Diese neu entdeckte Fähigkeit stärkte sein Selbstbewusstsein und seine Widerständigkeit gegen die Lehrer, die ihm Tadel eintrug.

      Schon mit Beginn der neuen Klasse störte Bruno zum ersten Mal, dass er zu dick war. Dieser Gedanke war ihm nicht neu. In der Schule wurde er schon lange Zeit „Dicker“ genannt. Beim Baden wurde er gehänselt, er habe Brüste wie ein Mädchen. Bruno sah die anderen Knabenkörper, schlank, sportlich, und sich selbst, unbeweglich, der im Sportunterricht nicht die einfachsten Aufgaben bewältigen konnte. Der Sportlehrer legte seinen Ehrgeiz darein, Bruno den Aufschwung am Reck beizubringen. Bruno hing am Anfang wie ein nasser Sack an der Stange, zum Spott seiner Mitschüler, unfähig, sich zu bewegen.

      „Ich bringe dir den Aufschwung bei“, sagte der Sportlehrer.

      In der neuen Klasse war auch Margarete, die Ahlers ihm ein Jahr vorher gezeigt hatte. Bruno hatte jetzt Augen für sie: ein ovales, fein gezeichnetes Gesicht, mit geschwungenen Augenbrauen, einem schönen Mund. Was Bruno aber am meisten faszinierte: ihr Lächeln, sie hatte eine Art, fast schüchtern zu Boden zu blicken, während ihr Gesicht in dem Lächeln erstrahlte und schön wurde. Bruno hätte viel gegeben, wenn Margaretes Lächeln ihm gegolten hätte.

      Am Abend kam er, als die Mutter ihn zum Essen rief, nur kurz herunter: „Mama, ab heute esse ich abends nicht mehr, ich bin zu dick!“, gab er kurz bekannt und verzog sich wieder zum Lesen auf sein Zimmer. Seine Mutter kam sofort hinterher: „Bruno, du musst doch essen, ohne Essen geht es nicht, du verhungerst mir doch.“ „Nein, ich bin zu dick, ich bin weit davon entfernt, zu verhungern“, antwortete er und blieb dabei, nicht nur an dem Tag, an den folgenden Tagen, sondern eine ganze Zeit lang, so lange, bis er sich nicht mehr zu dick fand; das war ungefähr nach einem Jahr. Da konnte er dann auch den Aufschwung. „Siehst du?“, sagte der Lehrer.

      16.

      In der Welt war Bundeskanzler Adenauer, der die Kindheit Brunos begleitet hatte, gerade abgelöst worden. Die Mauer in Berlin wurde gebaut, Kennedy wurde ermordet, die Franzosen rückten aus Vietnam ab, in das Vakuum stießen die Amerikaner nach, gleich energisch bekämpft von den Kommunisten aus Nordvietnam. Die ganzen fünfziger Jahre lang hatten sich Adenauer von der CDU und Kurt Schumacher von der SPD erbitterte Wortgefechte geliefert. Von alledem war nur ein schwaches Echo nach Neuburgheim gedrungen, und von dem schwachen Echo wiederum nichts in die Familie, in der Bruno aufwuchs. Der Vater war zunächst ein Anhänger einer Gruppierung gewesen, die sich „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ nannte. Diese Partei plädierte für die sofortige Rückkehr in die Ostgebiete, so dass der Vater ihr mit einiger Plausibilität anhing. Als die Partei aufgelöst wurde, wählte der Vater die CDU. Sein bevorzugter Politiker, seit Bruno sich erinnern konnte, war Franz Josef Strauß von der CSU.

      Trotz der Wortgefechte, die sich die Politiker lieferten, lag eine bleierne Starre über dem Land. 1945 war Deutschland zusammengebrochen. Die meisten Deutschen waren den Parolen der NSDAP gefolgt, die gegen die Kommunisten, die Juden und alle anderen hetzten, die nach ihrer Ansicht an der Misere Deutschlands Schuld waren. Die Kommunisten wollten Deutschlands Verderben, das war auch die oft geäußerte Auffassung von Brunos Vater, wenn in der Familie über Politik geredet wurde. „Ich habe gesehen, wie die Kommunisten in einem Dorf die Kirche zerstört haben, die die Nazis dann wieder aufgebaut haben“, erzählte er oft. Nun war zwar der Krieg verloren, die Nazis wie vom Erdboden verschwunden, die Ostgebiete und damit das eigene Gut in fremden Händen, aber waren dadurch die Kommunisten besser geworden? Wollten sie nicht immer noch alles enteignen? Und die Juden? Galt die jüdische