Der Lauf der Zeit. Friedrich von Bonin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich von Bonin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737566353
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auch nicht, sie wären dann von ihrer Umgebung als unverbesserlich und rückständig verschrien worden, von Menschen, die vielleicht das Gleiche dachten, aber sich ebenfalls nicht trauten, immerhin hatte Deutschland den Krieg verloren.

      Und nicht nur Brunos Eltern waren auf diese Weise verunsichert. Keiner traute sich, eine politische Meinung zu haben. Verbal vertraten alle die Meinung, die Nazizeit sei falsch gewesen, falsch auch der Krieg. Bruno kam viel später ein Zitat des von seinem Vater bewunderten Strauß in den Sinn: „Dem Deutschen soll die Hand abfallen, der noch mal eine Waffe in die Hand nimmt“. 1955 kam die Wiederbewaffnung Westdeutschlands und die Gründung der Bundeswehr.

      Das Ahlener Programm der CDU las sich wie eine linke SPD Postille. Von der Verantwortlichkeit des Eigentums gegenüber dem Ganzen war die Rede, von friedlicher, unbewaffneter Entwicklung Deutschlands. In die Verfassung schrieben die Väter in Artikel 14, das Eigentum sei sozial verpflichtend. Wenn es dem Wohl der Allgemeinheit diene, könne umfassend enteignet werden. „Ein Weg“, wie 20 Jahre später ein Verfassungsrechtler schrieb, „der zwar möglich ist, aber nie gegangen werden wird.“

      Die all diese Reden führten, diese Programme schrieben, waren ja 1945 nicht neu geboren worden. Die Biographien vieler Männer, die jetzt die Politik bestimmten, reichten bis zum Jahre 1933 und fuhren bruchlos 1945 fort. Was in der Zwischenzeit geschehen war, war unbekannt oder bedeutungslos. So geschehen in Biographien von Strauß und Hanns Martin Schleyer, dem späteren Arbeitgeberpräsidenten und vielen anderen.

      Einige wenige wurden, hohe Ämter innehabend, als ehemalige Nazifunktionäre entlarvt und widerwillig aus ihren Positionen geholt, wie der Kanzleramtsminister Adenauers, Globke, oder der frühere NS Marinerichter Filbinger, der Ministerpräsident von Baden – Württemberg war und erst spät von einem Schriftsteller als Richter entlarvt wurde, der noch zum Ende des Krieges Todesurteile für die Nazis verkündet hatte. Sie alle waren nur kurz verunsichert. Sie hatten sich blitzartig auf die neue Situation eingestellt und in der neuen Bundesrepublik Karriere gemacht; 40 Jahre später hätte man sie Wendehälse genannt.

      Alle diese Ereignisse und Personen führten dazu, dass über den Krieg, die Nazizeit und wer die Nazis eigentlich gewählt und gefördert hatte, nicht geredet wurde. Filme wurden gedreht, die sich nicht mit Politik, mit Nazis, mit Verbrechen beschäftigten, sondern mit „Ferien am Wörtersee“, dem „Wirtshaus im Spessart“ und die Schauspieler wie Peter Kraus, Sabine Sinjen, Nadja Tiller und Walter Giller hervorbrachten: unpolitisch, freundlich, harmlos. Wenn Filme ernsthaft wurden, beschäftigten sie sich mit unpolitischen Heldentaten deutscher Soldaten im Krieg, die natürlich alle den Nazis fern gestanden hatten

      Im Übrigen war man in Deutschland mit Geld - Verdienen beschäftigt. Deutschland musste aufgebaut werden. Bruno sah erst sehr spät auf Fotos das Ausmaß der Zerstörung, die der Krieg angerichtet hatte. In Neuburgheim war nicht viel zerstört, nicht für Bruno sichtbar. Hunger, ja, den hatte er als Kind miterlebt, Armut, aber nicht die direkten Folgen. Der Aufbauphase in den Städten folgte die Essphase, man hatte die Hungerzeit hinter sich gelassen, dann die Autophase, die Reisephase und so weiter. Mit der Vergangenheit sich zu beschäftigen, nein, dazu hatte man keine Zeit.

      Wohl gab es schon in den fünfziger Jahren auch die anderen, die mahnten, die sich 1955 gegen die Bewaffnung Deutschlands stemmten, die die Vergangenheit unter Hitler aufgearbeitet haben wollten, Kabarettisten wie Neuss und Hildebrandt, Schriftsteller wie Rühmkorf, später Ulrike Meinhof. Ihre Stimmen reichten nicht sehr weit in jenen Tagen, keinesfalls aber bis nach Neuburgheim, in Brunos Familie und damit zu Bruno selbst.

      Bruno entwickelte sich spät, sehr spät.

      Traurig lächelte Bruno vor sich hin. Soeben hatte ihn Margarete verlassen, er saß allein in seiner Villa, die er mit Margarete zusammen bewohnt hatte, und dachte über Nazis, Krieg und Adenauer nach. Was ging ihn, und dazu noch jetzt, Adenauer an? Das alles lag doch weit zurück und dennoch, auch das, die Zeit der fünfziger Jahre, gehörte zu seiner Geschichte, die ihn zu dem gemacht hatte, was er heute war. Zwar reich und angesehen, aber von Margarete verlassen, die nichts von ihm wissen wollte.

      17.

      Bruno erinnerte sich: Die Fragen, die er sich damals stellte, kamen nicht aus ihm selbst. Von den politischen Problemen hatte ein Lehrer erzählt, der in der Klasse Kunstunterricht gab. Weil sie aber mit seinem Fach, Kunst, nach Meinung des Lehrers nicht viel zu tun hatten, vertiefte er sie nicht weiter.

      Die Fragen nach Gut und Böse kamen nicht von der Schule, sondern aus seinen Gesprächen mit dem Pfarrer. Schon vor einigen Jahren hatte Bruno seinen Körper, seine Geschlechtsteile entdeckt und zu onanieren begonnen. Er hatte keine Ahnung, woher er wusste, dass das schlecht war, er wusste es einfach. In seiner Familie verleugnete man Sexualität, sogar die eigenen Körper, Nacktheit war verpönt, Bruno hatte seine Mutter nie bewusst, seine ältere Schwester zum letzten Mal mit 8 Jahren nackt gesehen. Was er über den Unterschied zwischen Männern und Frauen wusste, hatte er von Peter erfahren. „Mädchen haben Tittis, hast du schon gesehen?“ Ja, das hatte Bruno gesehen, beim Baden in den Flussgewässern. „Aber unten haben sie Löcher, da steckt man seinen Pimmel rein. Sie haben eins mehr als wir, glaube ich, eins zum Pinkeln und eins, wo man den Pimmel reintut.“ Bruno glaubte das nicht. Peter war auch nicht so sicher.

      Bruno wusste daher, dass alles, was mit dem Unterschied von Mädchen und Jungen, von Männern und Frauen, zu tun hatte, böse war. Was er im Konfirmandenunterricht hörte, auch von Pastor Volkmann, entsprach dem: „Lasst die Finger von den Mädchen“, hieß es dann, „dazu seid ihr zu jung“. Mit Grauen erzählte man sich von dem einen oder anderen Bauernmädchen, das sich mit Jungen eingelassen hatte. „Jetzt muss sie heiraten“, hieß es hinter vorgehaltener Hand, „er hat sie wohl hinter einen Heuhaufen gezogen, das hat sie jetzt davon.“ Das hieß, dass sie ein Kind bekam. Wenn in der Kirche ein Paar heiratete, trug sie einen weißen Schleier. Wenn die Braut allerdings schwanger war, dann war ihr der weiße Schleier verboten, sie musste dann ein graues Hochzeitskleid tragen, so dass sie für jeden als Sünderin gebrandmarkt war.

      Noch schlimmer war es, wenn eine Braut in einem weißen Schleier geheiratet hatte und dann ein Kind kam, bevor neun Monate herum waren. Dann nahm die ganze Gemeinde die Finger zur Hand, um zu zählen: „Im Mai haben sie geheiratet, Juni,“ der erste Finger wurde gehoben, „Juli,“ der zweite kam hoch, und auf diese Weise ,“August, September, Oktober, November, Dezember, Januar; aber das sind doch nur acht Monate!“ Man versuchte, herauszufinden, ob das Kind vielleicht eine Frühgeburt war, der Arzt wurde befragt, antwortete nicht; Wehe, wenn die Diagnose Frühgeburt sich nicht bestätigte, dann hatte sie in weiß geheiratet, obwohl sie hatte heiraten müssen. Sie war für ihr Leben gezeichnet.

      Bruno kannte daher den Unterschied zwischen Gut und Böse besonders gut, wenn Mädchen im Spiel waren. Das, was man mit ihnen gerne getan hätte, war böse und damit Schluss. Und deshalb war Bruno so sicher, dass Onanieren auch böse war.

      18.

      Die Schule war zu klein geworden, Anbauten verunzierten das ursprüngliche Gebäude. Eine Erweiterung nach Osten hin, den Flügel des winkligen Gebäudes verlängernd, ein unschöner Bau, ein weiterer nach Norden, den anderen Winkel des Gebäudes verlängernd, ein neuerer Bau, fünfziger Jahre, schnörkellos, nüchtern, ebenfalls unattraktiv. In diesem Flügel hatte Bruno in diesem Jahr seinen Klassenraum, quadratisch gebaut, aus einfachem Sichtbeton, mit einer Decke aus Kunststoff, niedrig im Gegensatz zu den hohen Decken des Ursprungsbaus, das Zimmer nur geschmückt durch eine halb vertrocknete Palme, die dort stand, nicht leben konnte, weil keiner sich um sie kümmerte, aber auch nicht sterben, weil immer einer im letzten Augenblick sich erbarmte und ihr einen Tropfen Wasser gab, und durch einen Kalender mit Landschaftsbildern.

      In der Pause standen sie im Klassenraum. Es war eine kurze Pause, in der sie nicht auf den Hof mussten. Draußen war es winterlich kalt, regnerisch und ungemütlich, drinnen war die Heizung voll aufgedreht. Sie standen an einer Wand, vor dem Kalender, das Blatt zeigte diesen Monat eine einsame Heidelandschaft, das in Bruno eine Erinnerung an die Heide in Neuburgheim wach rief.

      „Nun, Bruno, denkst du nicht an schöne Stunden, wenn du das Bild ansiehst?“

      Bruno war wie elektrisiert. Da war sie, Margarete, die