Der Lauf der Zeit. Friedrich von Bonin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich von Bonin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737566353
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menschliches Leid unabhängig von Schuld zu sehen und es mitempfinden zu können.

      Das Leiden seines Vaters war subtiler, schuldbeladener und möglicherweise brutaler, wenn ein solcher Vergleich überhaupt möglich ist, ein Leiden, das er nie zeigte. Er war von seinem 22. bis zum 28. Lebensjahr als Offizier im Krieg gewesen, trug mit Stolz ein Ritterkreuz, hatte den Krieg vielleicht, so jedenfalls nach Brunos späterem Eindruck, als Möglichkeit zum Abenteuer begrüßt, aber dann offenbar doch zu viel gesehen. Er versuchte sich die Schmerzen von der Seele zu reden, indem er seine Heldentaten aus dem Krieg erzählte, die aber wollte nach kurzer Zeit keiner in seiner Umgebung mehr hören, da vergrub er sie. Nur in der Nacht stöhnte, schluchzte und schrie der Mann, der seine Leiden, die Leiden der anderen, die Bilder des Krieges nicht loswerden konnte. Bruno lernte, als er heranwuchs, einen Soldaten aus dem Weltkrieg kennen, der in Russland in Gefangenschaft gewesen war, spät und todkrank zurückkehrte und nie über den Krieg redete, er sprach eigentlich gar nicht mehr. Der, so hatte Bruno jahrzehntelang gedacht, hatte wirklich gelitten, war das Opfer seines Vaters gewesen, der ja nur Heldentaten erlebt hatte. Auch diesmal brauchte es wieder viel mehr Lebenszeit, um beide Männer als Leidende zu erkennen.

      2.

      Die Nissenhütte war beengt: zwei Räume unter einem rund geformten Wellblechdach, ohne Isolierung, mit einem Ofen in einem der Räume, der andere bitterkalt im Winter, beide heiß in warmen Sommern. Auf der einen Seite ein Kanal, der zwei Flüsse miteinander verband, aber nur selten von Schiffen befahren wurde, auf der anderen unkultiviertes Moor. Hierhin hatten sich die Eltern aus „Angst vor den Russen“ geflüchtet, wie sie jedenfalls Bruno und seinen Geschwistern erzählten, deren es bald drei gab: der ältere Bruder, der die Flucht mitgemacht hatte, war kurz nach Geburt der Schwester gestorben, Bruno erinnerte sich nicht an ihn. Die Schwester, Hanna genannt und ein Jahr älter als Bruno, war schon da. Es kamen noch zwei Brüder, Malte, zwei Jahre jünger und Hendrik, drei Jahre jünger als Bruno.

      So wuchs er mit seinen Geschwistern heran. Sein Vater betrieb neben der Nissenhütte eine Gärtnerei, deren Produkte er in einem winzigen Bretterladen im Dorf verkaufte. Dorthin kam er mit dem Motorrad, Gangschaltung am Tank. Bruno wusste die Marke nicht mehr. Auf diesen Fahrten durfte er vorne auf dem Tank sitzen, zwischen den starken Armen des Vaters, die den Lenker hielten. Ein Gefühl der Geborgenheit überkam ihn jedes Mal, ihm konnte nichts passieren, die Welt war außen, er innen. Aber dann wurde sein Bruder Malte alt genug, um auch auf dem Motorrad mitgenommen zu werden. Der Platz auf dem Tank gehörte ab sofort dem Bruder. Bruno durfte auch mitfahren, allerdings hinter dem Vater auf dem Soziussitz. Er fühlte sich nicht mehr geschützt vor der Welt, sie konnte ihn erreichen. Eifersucht auf den Bruder mischte sich mit Stolz, dass sein Vater ihn wohl für groß genug hielt, auf dem Sozius zu sitzen.

      3.

      Neuburgheim hieß das kleine Dorf, das in der Nähe lag. Es war wie viele andere auch nach dem Krieg rasend schnell gewachsen, wegen der Flüchtlinge, die gleich seinen Eltern vor den Russen so weit wie möglich nach Westen geflohen waren. 2.500 Einwohner zählte die kleine Ortschaft, als alle Flüchtlinge angekommen waren.

      Von der Nissenhütte führten zwei Anfahrten dahin, einer rechts und einer links neben dem Kanal, Vater und Mutter nahmen immer den linken, keiner wusste, warum, beide waren mit dickem Sand belegen, für die Pferdefuhrwerke, die Hauptwege von den Fuhrwerken tief ausgefahren, in zwei Spuren. Wenn man mit dem Fahrrad oder Motorrad in eine dieser tiefen Furchen kam, stürzte man unweigerlich, es schlingerte so lange, bis man lag. Deshalb gab es daneben schmale Spuren für Fahrrad und Motorrad, zwar auch Sand, aber immerhin fester und ohne tiefe Rillen.

      Zwischen dem Damm für die Fuhrwerke und der Spur für Fahrräder war eine kleine Hecke aus Buschwerk, rechts neben dem Fahrradweg begann das undurchdringliche Schilf, das bis hinunter zum Kanal wuchs.

      Jenseits der breiteren Strecke gab es eine erneute Böschung, diesmal aufwärts, etwa fünf Meter, die gesamte Erhöhung war mit Kiefern und Birken bestanden, unten mit Buschwerk, durch das man sich zwängen musste, wollte man auf den Hügel klettern. Alles stand auf losem sandigem Boden. Im Sommer gaben Büsche und Bäume starken Schatten, man fuhr nie in der prallen Sonne. Das Dickicht lebte: Es gab Vögel aller Art, Amseln, Lerchen, Stare, Spatzen natürlich, und nachts Nachtigallen, dann Kaninchen, Hasen, Mäuse, Ratten und Schlangen.

      Der Kanal war voll mit Fischen. Obwohl sauber, war das Wasser nie klar, weil es mitten im Moor lag.

      Einsam, mit nach innen gerichtetem Blick, saß der verlassene Bruno an dem Esstisch in seiner Villa in Göttingen und erinnerte sich. Erinnerte sich des kleinen Jungen hinter dem Vater auf dem Soziussitz und weinte vor Einsamkeit und Mitleid mit diesem kleinen Jungen und seinem einsamen Sitz auf dem Motorrad, während die starken schützenden Arme des Vaters vor ihm seinen Bruder hielten, nicht ihn.

      Und indem er merkte, dass er in dem kleinen Jungen sich selbst betrauerte, sah Bruno klar und deutlich die Wagenspuren auf dem trockenen Sand des Kanalweges, sah sie, wie sie aufeinander zuliefen, sich vereinigten und sich wieder trennten, aber immer auf dem gleichen Weg blieben und verstand in plötzlicher Klarheit, wie die Spuren seinem Leben glichen, das seine Spur zog, er Margarete begegnete, sich von ihr trennte, ihr erneut begegnete. Immer wieder hatte er in seinem Leben gewonnen und verloren, wie im Spiel, nur, dass es mehr schmerzte als ein Spiel.

      Zwei Brücken führten über den Kanal. Von der Nissenhütte benutzte man die erste, um in das Dorf zu kommen, das auf der anderen Seite des Kanals lag. Sie waren beweglich, man konnte sie mit einer Kurbel anheben und dann zur Seite schieben, so dass Schiffe hindurch fahren konnten. An beiden Übergängen gab es Bauern, die den Mechanismus bedienten. Wenn Bruno über den Kanal musste, ging er absichtlich langsam. Immer hoffte er, es würde ein Schiff kommen und der Brückenwärter die Brücke öffnen.

      Im Winter war der Kanal zugefroren, helles Eis lud zum Begehen ein, im Sommer war er eine stille Idylle, freundlich und warm.

      Auf der anderen Seite der Hütte, vom Dorf weg gelegen, begann unendliches Moor, von kleinen Ansammlungen von Kiefern, Birken, wohl auch Erlen, unterbrochen. In diesen Wäldchen gab es mehr Wild. Das Sumpfgebiet selbst war gefährlich und unheimlich, Hochmoor, nicht kultiviert, mit Löchern, die tief waren, so tief, dass man drin ertrinken konnte. Die konnte man aber sehen, gefährlicher waren die unsichtbaren und unsicheren Stellen, die erst dann in unergründliche Tiefen absanken, wenn man darauf trat und sie mit Gewicht belastete. Dunkel war es hier und unheimlich, selbst im Sommer. Manchmal, wenn man auf den sicheren Stellen ein Wasserloch passierte, blubberte es heraus, als wenn dort ein Lebewesen Luft abblies. Im Dunkeln waren oft Lichter im Moor zu sehen. Bruno fürchtete sich vor dem ganzen Gebiet, es war nicht daran zu denken, im Dunkel, oder auch nur in der Dämmerung da hineinzugehen.

      An den trockenen Stellen des Moores wuchs Heide, Wollgras, es gab auch Stellen mit bloßem Sand, der dunkelgrau war. Wenn auf diesen Stellen im Sommer ein Stück Holz lag, war es manchmal kein Holz, sondern eine giftige Kreuzotter, der man besser aus dem Wege ging, oder eine Ringelnatter, die war aber ungefährlich. Im Sommer gab es viele Schlangen im Moor und auf der Heide.

      Die Nissenhütte selbst lag auf einem kahlen Platz. Wenn man vom Weg her hin wollte, lag links vom Platz die Hütte selbst, rechts daneben hatte der Vater für sein Gemüse die Gewächshäuser aus Glas errichtet. Es gab ein Bild, auf dem seine Eltern mit ihm, seiner Schwester Hanna, und seinem Bruder Malte zu sehen sind. Seine Mutter saß, eine schlanke, schwarzhaarige Frau, mit gerader Nase und einem geschwungenen Mund, eine schöne Frau, sein Vater stand daneben, hochgewachsen, ebenfalls schlank, mit Hut, der Offizier war vor allem aus seinem strengen Mund zu erkennen, beide mit ernsten aristokratischen Gesichtern vor der ärmlichen Nissenhütte, in die ein grausames Schicksal sie verbannt hatte.

      4.

      Als Bruno fünf Jahre war, zogen seine Eltern mit der ganzen Familie um. Mittlerweile war ein weiterer Bruder, Hendrik, dazugekommen, Die Eltern wohnten nun mit vier Kindern in dem Dorf, in einem Haus, das der Vater selbst hatte bauen lassen. Dieses Haus lag nicht mitten im Dorf, sondern am Rande, immerhin waren es nur noch fünf Minuten zu Fuß zum Kaufmann, ebenso viel zur Kirche.

      Zu dem Haus gehörte ein großes Grundstück. Der Vater hatte um dieses Grundstück im Abstand von zwei Metern Pappeln