„Lieber Bruno, mein Ehemann und Geliebter“, schrieb Margarete, „ich verlasse Dich, heute Abend, jetzt. Ich verlasse Dich weinend, weil ich Dich immer noch liebe. Trotzdem verlasse ich Dich, weil mein Leben neben Dir nicht mehr mein Leben ist. Du weißt, wie ich immer Angst vor Deiner Skepsis hatte, wie ich aber gelernt habe, mit ihr zu leben. Du weißt aber auch, wie ich mich gewehrt habe, gegen die Wendung, die Du in Deinem Beruf gemacht hast, gegen den Reichtum. Du weißt, wie gerne ich in diesem Haus gelebt habe, aber auch das Haus ist Ausdruck des Lebens, das Du und auch ich zu führen begonnen haben. Alles in mir sträubt sich gegen eine Existenz als Ehefrau des prominenten und reichen Anwaltes. Mir ist klar geworden, dass ich dieses Leben nicht mit Dir teilen will, und deshalb gehe ich. Forsche nicht nach mir, Du wirst mich nicht finden. Lebe wohl.“
Bruno fühlte, wie sich ganz langsam sein Magen zusammenkrampfte, wie sein Mund sich verzog, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen und zum ersten Mal seit ungezählten Jahren weinte er, lange, tief schluchzend, bitter. Er warf sich auf das Bett, wühlte sich in die Bettwäsche, weinte, minuten-, stundenlang, bis er vor Erschöpfung einschlief. Am nächsten Morgen wusste er sofort, als er aufwachte, was ihm geschehen war, Und wenn er sie suchte? Wenn er ihr nachforschte, sie fand, und sie bat, zu ihm zurückzukehren? Aber er wusste, das würde er nicht tun. Bruno war kein Kämpfer, schon einmal hatte Margarete ihn verlassen, ihm zu verstehen gegeben, dass sie mit ihm nichts mehr zu tun haben wolle. Und dann war sie zurückgekommen, auch damals hatte er nicht nach ihr gesucht.
Bilder hatte er von ihr in sich, Bilder, wie er sie das erste Mal sah, wie er sie das erste Mal küsste, wie sie in dieses Haus gezogen waren und sie sich gefreut hatten. Bilder aber auch von ihren Streitereien der letzten Tage, Wochen, Monate. Immer hatte sie ihm deutlich gesagt, dass er sich gewandelt habe und sie das Leben, das sie führten, nicht akzeptieren wolle.
Bruno sah sie deutlich vor sich, wie er sie das erste Mal gesehen hatte, ein junges Mädchen, das er vorher nicht beachtet hatte, über den Schulhof gehend, er erinnerte sich an das Gefühl, das ihn damals überfallen hatte. Er hatte sich verliebt in Margarete, ein Gefühl, das bis heute nicht erloschen war.
Still, bitter, jetzt tränenlos, saß Bruno auf dem Bett. Sie hatte ihn verlassen, heute Nacht, zum zweiten Mal, aber warum?
Bruno erinnerte sich an Splitter ihres gemeinsamen Lebens. „Nimmst Du denn gar nichts ernst?“ hatte sie ihn oft gefragt, wenn er sich lustig machte, über ihre Kollegen, seinen Beruf, über Mandanten, über politische Entwicklungen. Er hatte ihr zu erklären versucht, wie sehr Skepsis Teil seiner Existenz sei, wie er sie als Schutzschild gegen das Leben brauche und warum. Und sie war damals zu ihm zurückgekommen.
Über Geld hatten sie zuletzt gestritten, nicht, weil sie zu wenig hatten, sondern zu viel und weil, wie sie sagte, ihm Geld zu wichtig sei. Hatte er sich so sehr verändert, oder war er immer der Gleiche geblieben, hier in Göttingen, vorher in Göttingen als Student oder noch früher, in Neuburgheim, als Kind?
Bruno sah Bilder von sich als Kind, als Schüler, sich selbst mit seinen Eltern und Geschwistern in Neuburgheim, und begann, sich zu erinnern. Keinen Augenblick würde er Margarete vergessen, er trauerte um das Leben mit ihr, das jetzt vorbei war, und er wusste, noch lange würde er trauern.
Sie war es, die ihn in der Schule angesprochen hatte, er war noch nicht siebzehn Jahre alt, sie standen mit Klassenkameraden vor einem Bild mit einsamer Heidelandschaft im Klassenzimmer.
„Nun, Bruno“, hatte sie ihn angelächelt, „denkst Du da nicht an schöne Stunden?“
Bruno war vollkommen in ihren Anblick vertieft gewesen und schrak hoch. Sie hatte ihn angesprochen, ihn, Bruno. Unter Tränen lächelte Bruno, als er daran dachte, wie ungeschickt er gewesen war, aufgeschreckt und an seinen Platz geflüchtet war er, eine Arbeit vorschützend. Tagelang hatte er sich nicht getraut, sie auch nur anzusehen. Das war in Hermstadt gewesen, der Stadt, in der er in das Gymnasium ging.
Hermstadt, Neuburgheim, wie tröstlich war es, an die Orte zu denken, in denen er seine Jugend verbracht hatte, wo er seinen Anfang genommen hatte, beruhigend wie die Heidelandschaft in Neuburgheim.
II. Jugend
1.
Bruno von Halcan wurde ein Jahr nach dem Weltkrieg geboren. Das sagt sich leicht, war aber Mitte des 20. Jahrhunderts schon interpretationsfähig: nach welchem Krieg? Die Weltkriege zeichneten das Jahrhundert aus. Obwohl die Europäer schon immer miteinander Kriege geführt hatten, wurden diese beiden als Weltkriege bezeichnet, weil praktisch die ganze Welt darin verflochten war oder jedenfalls das, was die Europäer, die die Welt immer noch aus dem Blickwinkel Mitteleuropas sahen, dafür hielten. Bruno jedenfalls wurde nach dem zweiten Weltkrieg geboren.
Er gehörte der zweiten Löwengeneration nach dem Krieg an, für diejenigen, die Astrologie mögen. Als Löwe im Aszendenten des Löwen geboren. Und die den Löwen nachgesagten Eigenschaften würden ihn, ob man an die Interpretationen der Sternzeichen glaubte oder nicht, sein Leben lang begleiten: Gutartiges Angebertum, Großzügigkeit, Neugier und ein sonniges Gemüt.
Seine ersten Lebensjahre verbrachte Bruno in einer Nissenhütte am Rande eines winzigen Dorfes, Neuburgheim, im westlichsten Westdeutschland. Seine Eltern waren Kriegsverlierer, wie es auch Kriegsgewinner gab, sein Vater war der Erbe eines kleinen Gutes jenseits der Oder-Neiße-Linie gewesen, wie man die Grenze zwischen Polen und Deutschland damals nannte. Klein war das Gut nur nach jenen Maßstäben gewesen, mit denen man in dieser Gegend vor dem Kriege maß, kleine 6.000 Morgen, davon 4.000 Morgen Wald und 2.000 Morgen Ackerland, insgesamt 1.500 Hektar. Das nächstgrößere Gut hatte ungefähr 10.000 Morgen gehabt, auch das war noch ein kleines Gut nach den dort geltenden Verhältnissen. In Neuburgheim, wo Bruno aufwuchs, hatte der Großbauer, wie er genannt wurde, 80 Morgen, deshalb konnte sich Bruno zeitlebens an die Größenordnungen, in denen seine Eltern dachten, nicht gewöhnen.
Brunos Vater war im Krieg gewesen, als die Russen in die Nähe des väterlichen Gutes kamen; seine Mutter floh, das war 1945, mit einem kleinen Sohn und schwanger mit Brunos Schwester, sie floh aber nicht, bevor sie nicht das Familiensilber mit „Mamsell“, der vertrauten langjährigen Köchin des Gutes, im Garten vergraben hatte. Die Herrschaft der russischen Armee konnte ja nicht von langer Dauer sein, dachten sie, dann kam man wieder und hatte das Silber gerettet.
Die Qualen seiner Eltern in dieser Zeit hat Bruno sich nie vorstellen können. Seine Mutter, hochschwanger, im Ungewissen über das Schicksal ihres Ehemannes im Krieg, machte sich auf den Weg nach Westen, immer vor der russischen Armee her. Aber die Verkehrsmittel, Bahn und Pferdefuhrwerk, hatten nicht gerade auf Brunos Mutter gewartet, sondern wurden dazu eingesetzt, die geschlagene deutsche Armee nach Westen zu bringen, man hatte keinen Platz für alleine fliehende Frauen.
„Da kam mir zugute, dass ich schwanger war und die Regierung die Förderung arischen Nachwuchses immer noch auf ihrem Programm hatte“, erzählte sie später immer und immer wieder, „die Offiziere, die ich um Hilfe bat, ließen mich in den Armeezügen mitfahren, aber nie gerade nach Westen, sondern immer dahin, wo die Armee sich gerade hinbewegte. So kam ich dann im Februar nach Neustrelitz, in der Nähe von Rostock, da wurde deine Schwester geboren, auf dem Bahnhof.“
Als Bruno diese Geschichte zum ersten Mal hörte, war sie eine Geschichte wie jede andere auch. Erst als junger Mann verstand er die Bedeutung des Programms „Förderung des arischen Nachwuchses“ , noch später sah er die Bilder von Flüchtlingen, die zu Fuß, mit Karren, über die vereiste Ostsee flohen und wie sie reihenweise starben und begriff das unendliche Leiden, aber immer mit dem Gedanken,