Im Sommer, wenn niemand bleibt. Andreas Nolte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Nolte
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844259650
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ist es vermutlich noch langweiliger als auf der Erde.

      Patrizia saß im Wohnzimmer am Fenster und lackierte sich die Zehennägel. „Machst du uns was zu essen?“ fragte sie. Ihre Stimmung hatte sich gebessert. Als Felix sie weiterhin bei der Arbeit beobachtete, ohne zu antworten, setzte sie hinzu: „Schieb doch einfach zwei Pizzas in den Backofen. Das kannst du doch.“

      Ihm gefiel nicht, wie sie den Pascha spielte. Lediglich weil er selber Hunger hatte, folgte er ihrer Anweisung. Er brachte ihr sogar die fertige Pizza mit ins Wohnzimmer, wo sie schweigend zusammen aßen. Nachdem Patrizia das letzte Stück gegessen hatte, sagte sie: „Ach übrigens, heute Abend kommen ein paar Freunde vorbei. Willst du dich nicht mit irgendwem verabreden?“ Sie schaute auf; im Widerspruch zu ihrem beiläufigen Tonfall war der Blick lauernd. Felix wurde neugierig: „Wieso, was wollt ihr denn hier machen?“

      „Was sollen wir hier schon machen wollen!“ entgegnete sie.

      „Na dann kann ich ja auch hierbleiben.“

      „Du hast wohl keine Freunde, was?“

      Als er nichts antwortete, begann sie ihn zu belehren, wie wichtig echte Freundschaften für Heranwachsende sind zur Ausbildung ihrer sozialen Kompetenz. „Oder willst du etwa zum Eigenbrötler werden? Also: Mit wem willst du dich heute Abend verabreden?“

      Felix fand ihr Gehabe lächerlich. Er hatte längst bemerkt, dass sie jeden Monat andere Freunde mitbringt, von denen sie nach kurzer Zeit immer versetzt wird. „Ich schau mal“, antwortete er und wollte sich abwenden.

      „Ich schau mal, Ich schau mal!“ entgegnete sie, „aber eins sag ich dir: Wenn du dich nicht verabredest, bleibst du auf deinem Zimmer und störst uns nicht. Hast du verstanden?!“

      „Du hast hier gar nichts zu bestimmen“, sagte Felix beim Hinausgehen. Er ging in den Keller und setzte sich in einen alten Sessel, um weiterzulesen. Statt sich auf seine Lektüre zu konzentrieren, ging ihm Patrizias Vorwurf nicht aus dem Kopf: Auf dem Schulhof ist er nicht unbeliebt, macht zusammen mit den anderen oft Quatsch. Manchmal verabredet er sich auch mit jemandem, bisher hat ihm nichts gefehlt. Er fand nicht, dass er ein Einzelgänger ist, aber einen richtigen Freund, oder das was Patrizia darunter versteht, hat er nicht. Würde er sich dann heute nicht so langweilen? Ihm fiel Uli ein: Im Prinzip war der ja ganz nett gewesen, ein wenig seltsam zwar, aber sicherlich nicht langweilig. Felix schloss die Augen und sah die roten Haare des Jungen vor sich; an sein Gesicht konnte er sich nicht erinnern– vielleicht begegne ich ihm ja wieder, wenn ich auch heute ein Eis holen gehe.

      Er fand im Keller einen alten Strohhut und setzte ihn auf, bevor er aus dem Haus ging. Es gibt viele Gefahren auf der Straße, vor denen ihn seine Eltern ständig warnen: Überfahren zu werden, ausgeraubt zu werden, vergewaltigt und getötet zu werden– in diesem Sommer kam noch eine weitere Gefahr hinzu: Einen Hitzschlag zu erleiden. Als Felix der Sonne entgegentrat, hatte er das Gefühl, mit dem Hut auch gegen alles andere gefeit zu sein. Der Gedanke half ihm zu ignorieren, wie gefährlich das Leben ist.

      Es war so heiß, dass selbst Herr Bramsche die Arbeit eingestellt hatte. Nur die Grillen zirpten, und wenn eine Windbö aufkam, war leise die Autobahn von der anderen Seite des Flusses zu hören. An vielen Häusern waren die Rollläden hinuntergelassen, in den Gärten wucherten Brennnesseln und Brombeergestrüpp; auch sie waren blass vom Staub. In manchen Vorgärten standen Schilder: ZU VERKAUFEN– alle Leute haben die Stadt verlassen: Für den Sommer? Für immer?

      Seit im Fernsehen immerzu von der Krise gesprochen wird– nein, nicht von der Klimakrise, sondern der Wirtschaftskrise, der Immobilienkrise– seither entdeckt Felix immer mehr Zeichen des bevorstehenden Zusammenbruchs. Nur sie würden verschont bleiben– hatte sein Vater nicht wiederholt ausgerufen: GOTTSEIDANK SIND WIR NICHT DAVON BETROFFEN?

      Auf dem Bürgersteig stand ein Karton mit Büchern, daran klebte ein Schild: ZUM MITNEHMEN. Er stand vor einem Bungalow mit gebürstetem Rasen. Die Fenster waren nicht verhangen, man konnte einmal quer durchs Haus schauen in einen weiteren Garten, alles wie im Katalog. Felix fiel ein, dass sie vergessen hatten, die Pflanzen in ihrem Garten zu wässern.

      Er nahm ein paar Bücher in die Hand, die meisten waren ganz neu. Er fand kein Geeignetes für sich. All diese Dinge, die unnütz produziert werden, machen die Welt nur noch heißer. Selbst für das Kühlen von Eis wird Hitze erzeugt, dachte Felix, als er in das Eiscafé trat.

      Der Verkäufer saß diesmal an einem seiner Tische, auch er langweilte sich. Zu Beginn des Sommers hatte er es immer eilig, sein Eis zu verkaufen; jetzt stand er nicht einmal auf, als Felix sich vor ihn stellte: „Ich hätte gerne ein Eis.“

      „So. Ein Eis möchtest du also.“ Der Mann schien erstaunt über Felix Wunsch.

      „Ja, Zitrone und Maracuja.“

      „Ist aus“, erwiderte der Verkäufer, „wir haben heute nur Erdbeer, Vanille und Schokolade.“

      „So wenig?“ Felix war enttäuscht.

      „Früher, als ich klein war, gab`s auch nichts anderes“, entgegnete der Verkäufer. Er ging hinter die Verkaufstheke. Felix war eine reichliche Auswahl gewohnt, deshalb fiel es ihm schwer, sich zu entscheiden. „Du kannst es auch philosophisch betrachten“, der Mann wartete mit dem Portionierer in der Hand auf Felix Wahl, „es ist die Beschränkung aufs Wesentliche.“ Dabei lächelte er seinem Gedanken hinterher.

      Felix nahm Schokolade und Vanille, obwohl er beides nicht so gerne mag. Eigentlich wäre er gerne in der Eisdiele geblieben, dort war es kühl. Aber der Mann war so seltsam, dass Felix das leere Café rasch verließ. Er war froh über den Hut, jetzt musste er nicht mehr die Augen zusammenkneifen, und das Eis schmolz langsamer, wenn er es im Schatten der Krempe hielt.

      Er schlenderte die Straße entlang, ab und zu kamen ihm Leute entgegen. Das beruhigte ihn. Etliche Schaufenster in der Innenstadt waren mit Papier verklebt, bei manchen Geschäften wurde ein Umbau angekündigt, bei anderen hingen noch die Angebote des Räumungsverkaufs. Der Schmuckhändler hatte seine Schaufenster wieder frisch geputzt. Felix fragte sich, wer wohl so viel Geld übrig hat, diese teuren Uhren und Ringe zu kaufen. Sein Vater erzählte ihm einmal, dass die teuersten Stücke gar nicht ausgestellt würden, sondern im Tresor lägen. Vermutlich hat in dieser Stadt niemand das Geld dafür– so oft Felix vorbeikam, immer funkelten dieselben Brillianten in der Vitrine. Als sie damals zusammen vor dem Geschäft standen, bemerkte sein Vater, es bliebe meist verborgen, wie reich oder arm jemand ist. UND WIE REICH SIND WIR? hatte Felix gefragt, doch da wollte sich Herr Armbruster nicht festlegen: ARM SIND WIR NICHT. ABER AUCH NICHT SO REICH.

      Als Felix zurück nach Hause kam, machte seine Schwester gerade eine Modenschau. Sie verpflichtete ihn als Publikum. Zuerst trat sie in einem kurzen Kleid auf und drehte sich um ihre Achse wie eine Ballerina. „Wie sieht das aus?“ fragte sie.

      „Na ja, deine Oberschenkel“, murmelte Felix.

      „Was ist mit meinen Oberschenkeln?!“ Sie postierte sich vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt.

      „Willst du nun meine ehrliche Meinung hören oder nicht?“ Felix wollte sich schon abwenden, da antwortete sie: „Ja, sag halt schon!“

      „Deine Oberschenkel sind zu stramm dafür.“

      Wortlos ging sie durch die Tür, eine Minute später kam sie in Jeans zurück. Auch die saßen stramm, trotzdem sah es besser aus. Über der Hose trug sie ein T-Shirt, sie hatte jetzt einen ihrer Täuschungs-BHs angezogen. Auch das war zu prall, aber er sagte nichts mehr. Beim Bücken nach ihrem Lifestyle-Magazin schauten über dem Gürtel die Schnüre ihres Tangas hervor, die in der Poritze verschwanden. „Oh, wie schön!“ rutschte es Felix heraus, obwohl er genug von der Schau hatte.

      Kurz stockte sie in ihrer Bewegung. „Was meinst du?“ fragte sie.

      „Na ja, das wär mir aber zu unbequem.“

      „Lass das mal meine Sorge sein!“

      „Na, wenn du es schön findest.“

      „Du bist ja spießiger als Mama!“

      „Wenigstens