Als Felix ins Wohnzimmer trat, mixte Patrizia gerade einen weiteren Drink an der Bar. Ihre Bewegungen waren sanfter geworden, und als sie sich zu ihm umdrehte, glänzten ihre Augen. Sie lächelte ihn an, während er ihr das schmelzende Eis entgegenhielt. „Für dich“, sagte er.
Sie hielt den Arm ausgestreckt, ohne nach dem Eis zu greifen; vielmehr starrte sie auf die Tropfen, die es auf dem Parkett hinterließ. Schließlich rief sie: „Bist du jeck! Ich mache diese Woche eine Diät.“ Es muss sich um eine Alkoholdiät handeln– sie war schon so betrunken, dass sie sogar vergaß, über die Flecken auf dem Boden zu schimpfen. Sie ließ sich in den Sessel fallen, der unter ihrem Gewicht erschreckt knarzte. Felix war enttäuscht, obwohl er nur eine Pflicht erfüllt hatte, um seine Eltern vor dem Absturz zu bewahren. Auf dem Weg zur Garage schleckte er rasch das Eis, bevor es sich ganz auflöste. Uli wartete bereits: „Der alte Schlauch ist gerissen. Da ist nichts zu flicken.“
„Wir haben, glaub ich, Ersatzschläuche. Moment.“ Felix wollte gerade anfangen zu suchen, da sagte der Junge, dass er schon einen gefunden hatte: „Kann ich ihn einbauen? Ich besorg dir morgen einen Neuen.“
Felix beobachtete Uli beim Einbau des Schlauchs. Der Junge machte es recht gekonnt. Er selbst mag diese Art von Tätigkeit nicht und gibt einen platten Reifen lieber bei seinem Vater ab. Herr Armbruster zeigt ihm dann jedes Mal, wie man es macht, ohne dass Felix je Interesse bekäme, es selber zu probieren. Umso lieber schaut er Handwerkern bei der Arbeit zu. „Ich find`s toll, wie du das machst“, sagte er.
„Das ist doch ein Kinderspiel.“
Im Prinzip sind Felix Angeber unsympathisch. Bei diesem Jungen war es anders, vielleicht weil es allzu sehr nach Schauspiel aussah. Uli beendete seine Arbeit und wusch sich die Hände. Auch hierbei waren seine Bewegungen markant. Felix fragte: „Wie heißt denn das Stück, in dem du spielst?“
Im ersten Moment schaute Uli ihn erstaunt an, bis er anfing zu grinsen: „Bob, der Baumeister.“ Er hielt Felix die Hand entgegen, um sich ganz formal zu verabschieden, wie es zwischen Männern üblich ist. „Ich bring dir morgen den Schlauch vorbei.“ Dieser feste Händedruck beeindruckte Felix ganz schön. So gut es ging, erwiderte er ihn.
Mittwoch, 20. Juli
Felix träumte, dass ihm seine Schwester mit dem Rasenmäher die Haare schnitt. Beim Aufwachen war er ganz verschwitzt, obwohl er unbekleidet im Bett lag. Er schaute auf den Wecker, es war kurz nach sieben, und der Nachbar mähte schon den Rasen. Der Lärm war unerträglich, mit geschlossenem Fenster wäre es allerdings noch unerträglicher. Felix ging hinunter ins Wohnzimmer, wo es im Sommer kühler ist, aber an diesem Tag roch es stark nach Alkohol. Vom Sofa hörte er ein leises Stöhnen. Felix erschrak, in der Schule waren ihnen die Gefahren des Alkohols in düsteren Farben geschildert worden. Es roch säuerlich, als er sich dem Sofa näherte; Patrizia hatte sich übergeben. Als er feststellte, dass sie regelmäßig atmete, war er beruhigt. Die flüssigen Reste ihres Essens hatten ein wenig Ähnlichkeit mit Streuseln. Er machte einen weiten Bogen darum und öffnete die Terrassentür. Die Hitze schlug herein, ebenso der Lärm des Mähers. Das Thermometer zeigte schon 29 Grad im Schatten.
Seine Schwester stöhnte jetzt lauter. Wer zu viel trinkt, soll leiden– aber vielleicht war sie am Abend auch traurig gewesen, dass niemand sich mit ihr verabreden wollte. Felix fielen die Leute ein, die jeden Morgen am Park der Wiedervereinigung sitzen, wenn der Schulbus vorbeifährt, und die die Gefahren des Alkohols grob missachten. Da sieht er seine Schwester sitzen, zehn Jahre älter oder zwanzig, und er dachte, dass die Lehrer, die andauernd von den Gefahren durch Drogen reden, doch mal lieber über die Gefahren durch Einsamkeit sprechen sollten. Nur: Die Kotze seiner Schwester würde er nicht wegwischen.
Er suchte sich etwas zum Frühstück. Im Vorratsschrank, versteckt hinter Nudeln, fand er eine Tafel Schokolade. Er verteilte sie gleichmäßig auf zwei Toastbrotscheiben– sie am frühen Morgen schon pur zu essen würde seine Mutter kaum gutheißen. Selten hatte er ein so gutes Frühstück gehabt, und der Gesundheit wegen nahm er sich zum Abschluss einen Apfel.
Als er ins Wohnzimmer zurückkam, war der Rasenmäher verstummt und Patrizia saß auf dem Sofa. Mit stierem Blick fixierte sie die Terrassentür– kann dies grässliche Geräusch doch jederzeit wieder einsetzen! Aber es blieb still, selbst den Vögeln war es zu heiß. Sie versuchte aufzustehen. Auf halbem Weg ließ sie sich stöhnend zurück aufs Sofa plumpsen. „Felix“, flüsterte sie, „kannst du mir einen Gefallen tun?“ Nein, er soll nicht verschwinden wie sonst; sie wünscht eine große Flasche Wasser und eine Aspirin. „Ach, und wenn du vielleicht noch das hier wegwischen könntest.“
Felix überhörte das, aus Mitleid brachte er ihr aber Wasser und Tabletten. Nach einer Stunde lag sie immer noch auf dem Sofa, mit einem feuchten Tuch auf der Stirn. Je heißer es wurde, desto ekelhafter stank es im Wohnzimmer. Felix holte ihr sogar Eimer und Lappen. „Ich wisch das nicht weg!“ sagte er. Bei dem Gestank konnte man es unmöglich aushalten, also ging er mit seinen Comics vor die Haustür, wo es vormittags eine zeitlang schattig ist.
Um diese Uhrzeit herrscht normalerweise reger Verkehr auf ihrer Straße, an diesem Tag fuhr nur selten ein Auto vorbei– wegen der Ferien? Oder gibt es vielleicht eine neue Umleitung? Oder– haben etwa alle die Stadt überstürzt verlassen? Selbst zum Nachdenken war es zu heiß– solang der Nachbar seinen üblichen Beschäftigungen nachgeht, kann es so schlimm nicht sein.
Herr Bramsche heißt ihr Nachbar, seine Frau ist vor einiger Zeit gestorben. Wie alt er ist, war schwierig einzuschätzen. Nachdem er den Rasen gemäht hatte, vertrieb er sich die Zeit damit, auf der Einfahrt die letzten Reste von Vegetation zwischen den Pflastersteinen herauszukratzen. Ein Eimer stand neben ihm, in den er die Pflanzen samt Wurzeln warf. Er saß auf einer Kiste, die er ab und zu ein wenig nach vorne rückte. Manchmal schafft es Felix, sich in das Stillleben von arbeitenden Menschen so sehr zu versenken, dass er nicht einmal mehr seine Augenlider bewegen kann– ein äußerst erholsamer Zustand. Als der Nachbar einmal kurz aufschaute, entdeckte er den Jungen. „Hallo Felix“, rief er ihm zu, „ist heiß heute.“
Felix Trance zerplatzte. Er rief zurück: „Ja, ich hab im Radio gehört, dass es heute wieder 37 Grad werden soll.“
„Ja, Felix“, rief Herr Bramsche, „da muss man die wichtigen Dinge früh am Morgen machen.“
„Da haben Sie Recht“, rief Felix, „deshalb lese ich ja jetzt auch.“
„Ja, dann lies mal schön weiter!“ Herr Bramsche wandte sich wieder seiner wichtigen Arbeit zu. Felix war zufrieden mit sich– diese Art Gespräch, das man Smalltalk nennt, muss jeder Erwachsene beherrschen, um nicht als unsozial zu gelten.
Nachdem er einige Zeit gelesen hatte, wurde er so müde, dass er seinen Kopf gegen das Geländer lehnte und auf der Treppenstufe einschlief. Wahrscheinlich schlief er nicht sehr lange; als er die Augen wieder öffnete, war Herr Bramsche nur unwesentlich vorgerückt. Die Sonne stand jetzt über den Bäumen, und es wurde so heiß auf den Stufen, dass Felix sie verlassen musste.
Patrizia ging es wieder besser. Sie hatte den Boden im Wohnzimmer sauber gemacht und saß wie tags zuvor auf Papas Platz. Der Ventilator lief, in der einen Hand hatte sie einen Eiskaffee, in der anderen hielt sie das Telefon, in das sie aufgeregt plapperte. Ab und zu unterbrach sie ihren Redefluss mit einem schrillen Lachen. Es kam auch vor, dass sie mal zuhörte. Sie war so leicht bekleidet, dass sich ihre Brustwarzen deutlich unter dem T-Shirt abzeichneten. Felix war das peinlich und er ging auf sein Zimmer.
Er wusste nicht recht, was er tun sollte: Lesen macht müde, für Legos fühlte er sich zu alt. Er setzte sich vor den Computer und googelte ein wenig herum. Es kam ihm so vor, als habe er all die Seiten schon einmal gesehen. Nicht dass er wirklich die unzähligen Seiten, die es im Internet gibt, schon gesehen hätte; nur ähneln sie sich alle so sehr, dass auch das einschläfernd wirkt. Zudem heizt ein Computer das Zimmer nur noch weiter auf. Die verbotenen Seiten– der Gedanke daran war ihm so unangenehm wie der Anblick von Patrizia. Einmal hatten sie bei einem Klassenkameraden Pornos angeschaut; das heißt er hatte nur die Rücken der anderen Jungen gesehen, die dichtgedrängt vor dem Bildschirm standen.