„Mama, ich will Kika gucken!“, fordert das Kind.
„Nein, wir gehen lieber raus in den Garten“, antworte ich bestimmt.
Das Kind murrt. Allerhöchste Zeit, dass es mal rauskommt aus der Stadt, um ein bisschen frische Landluft zu schnuppern.
„Seit du hier bist, frisst er nicht mehr!“, behauptet die Tante stur.
„Ich will aber lieber Kika gucken!“, trotzt das Kind.
„Wir gehen in den Garten“, rufe ich der Tante zu, nehme das unwillige Kind an der Hand und zerre es hinter mir her.
„Ja, geh nur, geh“, knurrt die Tante mir hinterher.
Es ist der erste Tag. Es wird schon werden.
Im Gegensatz zu Jerusalem, wo die Hitze einen sicher erdrückt und Straßenstaub die Lungen blockiert, ist dieser Garten ein Paradies. Mindestens zwanzig Sorten Grün, ein üppiger Cocktail aus Blütendüften und eine Symphonie aus Vogelgezwitscher umschmeicheln die Sinne. Wellness pur. Ferien auf dem Lande sind genau das Richtige. Für das Kind. Für meine Nerven. Und für meinen Geldbeutel.
Zuerst gehe ich mit dem Kind rüber zu den freundlichen Nachbarn, „Hühner und Häschen gucken“. Dann hole ich den alten hölzernen Handwagen aus dem Schuppen und spiele Pferd, indem ich das Kind ein paar große Runden durch den Garten ziehe, mal im Schritt, mal im Galopp. Das Kind kreischt vergnügt, und ich bin zufrieden. Vierzehn erholsame Tage liegen vor mir. Zwei Wochen, in denen ich mein aufreibendes Großstadtleben hinter mir lassen kann. Die blöde Geschichte mit Boris. Den Minijob im Kindergarten. Das kaputte Fenster im Bad. Das ganz alltägliche Chaos halt.
„Dem fehlt die Traude“, begründet die Tante das Theater, das gerade aufgeführt wird, als wir ins Haus zurückkommen. Während wir draußen im Garten herumtollten, hat meine Tante eine Nachbarin herbeitelefoniert. Und nun stehen die beiden alten Damen mit ihren Krückstöcken neben dem großen Hund, tätscheln ihn liebevoll den Rücken und rufen im Chor: „Fein frisst das Hundchen, ganz prima, so ein feines Fresschen, du bist ja ein ganz braves Hundchen!“
Das alte Schäfer-„Hundchen“ wedelt lässig mit dem Schwanz und wirft mir von unten einen höhnischen Blick zu, um dann weiter seine Suppe aus Rindfleisch, Brekkies und Brühe zu schlabbern. Hält es mal kurz inne, um Luft zu holen, schwillt der Jubelchor der alten Damen sofort wieder an. „Na komm, noch ein bisschen, so ist’s fein.“
Als der Hund endlich brav aufgefressen hat, fragt mich die Nachbarin, ob ich schon wüsste, dass die Fischer-Steffi sich umgebracht hat. Das weiß ich natürlich nicht, kenne die Frau nicht mal. Daraufhin ist die Nachbarin furchtbar enttäuscht. Ganz sicher war sie sich, dass ich die Fischer-Steffi von der Dorfdisko kennen würde, weil die in meinem Alter war. Da werde ich schließlich doch neugierig und frage endlich nach, warum sich die Fischer-Steffi denn umgebracht hat.
„Ach, die Ärmste! Hat einfach nichts auf die Reihe gekriegt und einen Mann hat sie auch nicht gefunden.“
Aha. Hier auf dem Land wird noch Klartext geredet. Geradeheraus, ohne auf den Takt zu achten.
Als wir wenig später zu dritt am Abendbrottisch sitzen, behauptet die Tante wieder, ich hätte kein Herz für Tiere. Und sie hat recht. Wie auch? Ich brauche mein Herz, um das Kind und die Tante damit zu lieben. Für einen großen Hund ist da im Moment wirklich kein Kämmerchen mehr frei.
„Das ist für die Frau Seifert, sagst du beim Kruschke“, befiehlt die Tante, als sie mir Einkaufszettel und Portemonnaie in die Hand drückt. Zum Fleischer soll ich, zu einem speziellen, der notgeschlachtete Tiere zu Wurst und Kotelett verarbeitet.
„Dann gehst du zum Jakobi und holst ein paar Kirschen fürs Kind. Und vom Knöfel ein Dreipfundbrot.“
„Ich komm mit, ich komm mit“, singt das Kind fröhlich. Resigniert gebe ich mein Okay, obwohl ich die Einkäufe lieber fix allein mit dem Fahrrad erledigt hätte. Nun muss ich das Rad schieben. Mitnehmen muss ich es auf jeden Fall, stelle ich fest, nachdem ich einen Blick auf den Einkaufszettel geworfen und die Kilos an Leber, Lunge und Herz addiert habe.
Aus dem kleinen Laden des Notschlächters quillt eine Menschenschlange bis nach draußen. Der Bedarf an billigem Fleisch ist offenbar riesig. Als das Kind beim Anblick dieser Schlange zu quengeln beginnt, spiele ich mit ihm eine Runde „Ich sehe was, was du nicht siehst“.
„... und das ist rot!“, rufe ich und meine damit das speckig glänzende Häuserdach über dem Fleischerladen, doch das Kind deutet mit seinem kleinen Zeigefinger auf einen schicken Flitzer, der gerade auf der anderen Straßenseite einparkt und wirklich ein Blickfang ist, genau wie der Typ, der kurz darauf aussteigt. Persilweißes Hemd, Designer-Sonnenbrille, volles, dunkles Haar. Hat sich etwa ein Italiener hierher verirrt?, wundere ich mich. Dann wundere ich mich gleich noch mal. Denn der Typ kommt mir bekannt vor.
„Hallo Bernd!“, hallt mein Ruf durch die verschlafene Straße und ich winke ihm zu. Und bereue meinen Eifer sofort. Denn als Bernd tatsächlich die Straße überquert, direkt und freudestrahlend auf mich zusteuert, sehe ich mich plötzlich gnadenlos mit seinen Augen: Nicht einen Hauch Kajal um die müden Lider, das praktische graue Herrenshirt schlabbert wie ein Sack an mir herab, und selbstverständlich trage ich die leicht angeschmuddelte Gartenjeans. Sogar eine Vogelscheuche sieht eleganter aus. Und das soll sie gewesen sein, die große Liebe?
Rot vor Scham quäle ich mir ein verzweifeltes Lächeln ins Gesicht. Ganz anders Bernd, der absolut lässig grinst. Logisch. Sieht er doch wiederum aus, als wäre er an der Côte d’Azur zu Hause statt in diesem Kaff.
Unsere letzte Begegnung fand vermutlich unter einer silbernen Diskokugel statt, als wir, mit reichlich Promille im Blut, zur Musik von Neil Young, ACDC oder Lindenberg ausflippten. Klar also, dass wir uns ein gefühltes Jahrhundert später im grellen Sonnenlicht mitten auf der Dorfstraße unbeholfen wie zwei schüchterne Teenager begrüßen und nicht wissen, was wir sagen sollen. Zum Glück habe ich das Kind dabei, das ich ihm sogleich vorstelle. Voller Stolz berichtet Bernd, dass er auch zwei davon hat und mit seiner Familie in derselben Straße wie früher wohnt, direkt neben seinen Eltern. Ich erkläre daraufhin überflüssigerweise, dass ich bei meiner Tante wohne – wo sonst? –, diesmal aber länger zu Besuch sein werde, nicht bloß wie sonst übers Wochenende. Als die Schlange vorm Fleischer in Bewegung gerät, verabschiedet sich Bernd souverän mit ein paar Floskeln: Die Termine. Man sieht sich. Auf jeden Fall.
„Vielleicht auf ein Bierchen im Monopoly?“, schlage ich vor und finde es ziemlich mutig von mir, so konkret zu werden.
„Gute Idee!“, antwortet er unverbindlich, lacht mir fröhlich zu und geht zurück zu seinem roten Traum auf Rädern.
Wie paralysiert blicke ich ihm hinterher. Neidisch auf dieses Auto, diese Lässigkeit, vor allem aber auf die Termine.
„Jetzt bin ich wieder dran“, kräht das Kind. „Ich sehe was, was du nicht siehst!“
Ja, jetzt ist das Kind wieder dran. Ich muss weiterspielen.
Ein Faultier schwingt sich gemütlich von Ast zu Ast, es frisst und schläft. Dann wacht es auf, baumelt träge zum nächsten Baum rüber, knabbert dort ein wenig herum und schläft wieder. Die Tante und das Kind schauen dem Faultier fasziniert dabei zu, während mir fast die Tränen kommen. Jeden Abend gibt es einen anderen schrecklichen Tierfilm. Und ich hasse sie alle. Dieses dauernde Werden und Vergehen von Leben macht mich trübsinnig, diese Sinnlosigkeit des Ewiggleichen, die beim Faultier besonders augenfällig wird.
„Wann ist der Film denn vorbei?“, frage ich gequält, obwohl ich genau weiß, dass er noch mindestens sechsundzwanzig Minuten dauert.
„Der ist doch so interessant! Du hast wirklich kein Herz für Tiere“, schimpft die Tante wieder.
Ich muss hier raus. Unbedingt und sofort. Unter Menschen. Am liebsten zu Bernd.
Als der