Wäre da nicht dieser kleine, dunkle Stachel gewesen, diese noch immer piekende Frage, warum ihre Freundin nicht einfach kurz an die Tür gekommen war und wenigstens bloß „hallo“ gesagt hatte, mehr nicht, dann wäre die Welt für Ines so wunderbar orangerot wie dieser leckere Cocktail und sie hätte den Rest dieses verkorksten Tages mental in einer bequemen Hängematte abschlaffen können. So aber sah Ines, ohne es zu wollen, immer wieder Tanja vor sich, wie sie nachts, völlig betrunken, bei Richie klingelte und gnadenlos mit ihm abrechnete. Wie sie ihn als kindisch und prollig beschimpfte. Wie Richie, vermutlich ebenfalls betrunken, darauf reagiert haben mochte, wollte sie sich hingegen auf keinen Fall ausmalen.
Der Cocktail verdrehte Ines den Kopf, und im Nu hatte sie das Glas ausgetrunken. Ausgetrunken. Aufgefuttert, mit Ketchup, hatte Richie gesagt. Einem Typen wie ihm durfte man doch alles zutrauen. Wenn dieser Idiot doch nur die Tür aufmachen würde! In diesem Moment blinkte der Name Petersdorf in Ines‘ Kopf wie in riesiger bunter Leuchtschrift auf. Was zunächst nach Zufall aussah, ergab einen Sinn, als Ines einfiel, was Tanja einmal nebenbei erwähnt hatte: Frau Petersdorf besaß einen Schlüssel von Richies Wohnung! Für alle Fälle.
Ines konnte es kaum abwarten, ihren Cocktail endlich zu bezahlen. Zügig lief sie zurück zu Richies Haustür und klingelte bei Petersdorf. Die Nachbarin meldete sich, ihre Stimme klang misstrauisch. Erst zögerte die alte Frau, ihre eigene Wohnungstür zu öffnen. Dann weigerte sie sich, Richies Schlüssel herauszurücken. Als Ines jedoch, angeregt durch den Alkohol, die mögliche Tragödie so dramatisch wie möglich an die triste, grauweiß verputzte Wand des Hausflurs malte, erinnerte sich Frau Petersdorf an die vielen nächtlichen Streitereien, die sie hatte mit anhören müssen, und gab endlich nach. Sie holte den Schlüssel, bestand jedoch darauf, die Tür selbst aufzuschließen.
Als sie endlich vor Richies Wohnung standen, in der laut und deutlich Bässe wummerten wie schwere Pumpmaschinen, weigerte sich die alte Frau wiederum, den Schlüssel zu benutzen. Sie befahl Ines zu klingeln. Was sie auch tat. Die Klingel aber war noch immer abgestellt. Frau Petersdorf sah nun durchaus ein, dass etwas unternommen werden musste, wollte jedoch lieber gleich die Polizei rufen. Geduldig redete Ines weiter auf die störrische Alte ein, bis diese endlich mit zittrigen Fingern die Tür zu Richies Wohnung aufschloss, nicht ohne Ines missbilligende Blicke zuzuwerfen.
Unter diesen flüchtete Ines schleunigst durch die geöffnete Tür hinein in den kleinen Korridor der Wohnung. Dort lagen Klamotten verstreut über den Boden, ebenso im Zimmer geradezu, das mit Sofa, Riesenflachbildfernseher und Regal vermutlich ein Wohnzimmer darstellen sollte. Die harten Technobeats aber donnerten aus dem Raum zur Linken, dessen Tür nur angelehnt war.
Entschlossen drückte Ines die Tür weiter auf und ging einfach hinein.
Dieses Zimmer war ebenfalls spärlich und lieblos eingerichtet. Ines erblickte einen chaotischen Schreibtisch, einen langweiligen braunen Schrank und hinten am Fenster schließlich ein riesiges Bett, auf dem sich ein Knäuel aus nacktem Fleisch gerade zu entwirren begann. Ines erschrak heftig. Diesmal vor ihrer eigenen Courage. Was, um Himmels willen, machte sie hier bloß? In der unsinnigen Hoffnung, vielleicht unbemerkt zu bleiben, trat Ines einen großen Schritt zurück. Doch statt im Flur zu landen, krachte sie mit dem Rücken gegen die geöffnete Tür.
„Was machst du denn hier?“, fragte Tanja überrascht, zog sich die graugemusterte Bettdecke bis zum Kinn und kicherte, als befände sie sich gerade auf einem bizarren Trip. Mit ihrem verstrubbelten dunklen Haar und den schwarzen Schatten unter den großen Augen sah sie schön verrucht aus wie eine dieser melancholischen Sängerinnen namens Amy, Katy oder Lana. Und plötzlich kam es Ines äußerst absurd vor, dass sie sich um so eine bitch wie Tanja überhaupt Sorgen gemacht hatte.
„Und du?“, schrie Ines einfach zurück. „Was machst du hier?“
„Wonach sieht’s denn wohl aus?“, entgegnete Tanja, erneut aufrichtig überrascht, diesmal von der Wut ihrer Freundin. Mit ihren schmalen Fingern angelte sie nach den Zigaretten, die auf dem Fensterbrett lagen, während Richie nackt neben ihr kniete, reglos und mit offenem Mund, so dass er aussah wie die rätselhafte Statue eines durchgeknallten Bildhauers. Ines glaubte Sperma zu riechen und fragte sich, wann sie selbst zuletzt Sex gehabt hatte. Sie erinnerte sich nicht. Stattdessen fiel ihr ein, wie gründlich sie Volker heute dieses Picknick verdorben hatte. Und wem sie das zu verdanken hatte. Und plötzlich wurde sie ganz ruhig. Jedoch keineswegs gelassen, sondern hochkonzentriert.
„Na dann ist ja alles gut“, sagte Ines freundlich und lächelte sogar. „Und ich dachte schon, du bist froh, diesen degenerierten Brüllaffen los zu sein, der so egoistisch und prollig ist.“
„Hör auf!“, kreischte Tanja mit sich überschlagender Stimme.
„Und vor allem – so kindisch!“
Interessiert bemerkte Ines, wie Tanjas hübsches Gesicht rotorange anlief, ähnlich wie ein „Sex on the Beach“, während Richie seine Freundin von der Seite anstarrte, als hätte sie ihm soeben eine Machete in die nackte Seite gerammt.
„Es ist wieder alles okay mit uns!“ Tanjas Stimme klang schrill wie eine kratzende Gabel auf dem Teller, und ihre Blicke, scharf wie Laserstrahlen, schienen Ines killen zu wollen, um sie endlich zum Schweigen zu bringen.
Die aber lächelte noch immer. Sie hatte es so satt. All diese Dramen und Angebereien. Wodka, Pfirsichlikör, Grenadine und Fruchtsäfte – das war doch das ganze Geheimnis dieses albernen Cocktails, wie ihr die Getränkekarte des Cafés verraten hatte. Ines war wütend auf Tanja. Und zwar, wie sie nun feststellten musste, schon seit Jahren. Doch sie ließ sich nichts davon anmerken.
„Alles wieder okay, ja?“, fragte Ines vermeintlich erstaunt und erkundigte sich mit besorgter Stimme: „Wirklich? Auch im Bett? Funktioniert der kleine Pinsel wieder?“
Ein Zucken lief über Tanja blasse Wangen und ihre Schultern erschlafften, während Richies Gesicht sich nunmehr zur Faust ballte. Ines winkte fröhlich zum Abschied, dann drehte sie sich um und schlenderte zufrieden aus der Wohnung hinaus. Vorbei an der alten Frau Petersdorf, die ihr verwirrt hinterherblickte.
Erschöpft und zugleich aufgeputscht wie nach einem Boxkampf, den sie in letzter Sekunde für sich entschieden hatte, schlich Ines in ihre Wohnung und hörte den Fernseher laufen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wirkte dieses Geräusch beruhigend auf sie, ebenso der vertraute Anblick ihres Mannes, der komplett mit dem Sofa verschmolzen schien.
„Na und? Lebt Tanja noch?“, erkundigte sich Volker amüsiert.
„Keine Ahnung“, antwortete Ines wahrheitsgemäß und ihr Blick musterte, wohl aus Gewohnheit, die offene Chipstüte auf dem Tisch und die Flasche Bier. Als Volker das bemerkte, holte er so tief Luft, als müsste die für den Rest des Fußballspiels reichen. Ines hatte ihm das Picknick versaut, diesen Fernsehabend aber würde er sich auf keinen Fall von ihr verderben lassen, schwor er sich beim Leben von Robben und Ribéry. Und falls Ines das versuchen sollte, bekäme sie eine treffende Antwort auf ihre blöde Frage vom See. Wie Frauen und Fußball, so gut passen wir beide zusammen, wollte Volker gerade losschimpfen, als ein kleines Wunder geschah: Ohne ein vorwurfsvolles Wort zu verlieren, plumpste Ines neben ihn aufs Sofa, griff beherzt in die Chipstüte und trank einen Schluck von seinem Bier. Und guckte Fußball!
Allerdings verfolgte sie keineswegs das Spiel – was dem verblüfften Volker natürlich entging – sondern starrte lediglich auf den Bildschirm wie in ein Aquarium, in dem sich statt bunter Fische lauter sportliche Männer quirlig-elegant von einer Ecke zur andern bewegten.
„Ich bin nicht mehr dieselbe“, bekannte Ines unvermittelt und nahm noch einen kräftigen Schluck Bier aus der Flasche.
„Ja, das merke ich“, entgegnete Volker erfreut und legte zärtlich den Arm um die Schultern seiner Frau.
Ferien auf dem Lande
„Der Hund frisst nicht.“
Vorwurfsvoll,