Drei Nächte brauchten sie, dann, am vierten Morgen, sahen sie die Ansiedlung und den Rauch, der von den Herdfeuern durch die Kamine aufstieg. Häuser und Menschen waren so winzig klein, dass ihnen ihr Vorhaben kurzzeitig wie ein Kinderspiel vorkam. Doch ihr
Übermut schwand, je tiefer sie flogen. Sie landeten auf halbem Wege zum Dorf und Buba sagte; „Mir ist nicht wohl dabei, aber wir müssen euch hier verlassen. Auf jeden Fall bleiben wir in der Nähe. Falls ihr in Bedrängnis geratet, stoßt den schrillen Schrei aus, den ich euch gelehrt habe … wir kommen so schnell wie möglich. Ansonsten, wie besprochen, werden wir am Anfang des nächsten Monats an drei Abenden hintereinander um die gleiche Zeit hier an diesem Platz sein und auf euch warten. Wer bis dahin nicht zurück ist, von dem müssen wir leider annehmen, dass er … äh … wohl nicht mehr kommen kann. Viel Glück!“
Es war das Jahr 920 n. Chr., als sich dies zutrug und die Gnome dem Dorf am Rande des Waldes ihren ersten Besuch abstatteten – der dazu führte, dass nach der glücklichen Heimkehr der drei Mutigen entschieden wurde, auf eine Beziehung zu den Menschen vorerst zu verzichten und einen erneuten Versuch in genau 100 Jahren zu unternehmen – genauso, wie Bombur es von Anfang an bei ungünstiger Beurteilung geplant hatte.
Er führte auch dazu, dass die Menschen durch einige unerklärliche Vorfälle in ihrem Dorf während des ganzen Monats September noch abergläubischer und misstrauischer wurden, als sie es ohnehin schon waren und von der Existenz der bisher nur vermuteten bösen Geister, die ihren Wohnsitz im Wald hatten – wo sonst – nun vollends überzeugt waren. So verhielt sich das Vieh in dieser Zeit recht ungewöhnlich. Kühe warfen mit ihren Hinterläufen die Milcheimer um, so dass sich die weiße Flüssigkeit auf dem Boden verteilte, oder sie schlugen mit aller Kraft dem Melkenden ihre grün-braun besudelten Schwänze um die Ohren. Pferde tobten störrisch, stiegen auf die Hinterbeine, galoppierten in den Wohnraum und äpfelten dort vor Aufregung auf die Schlafstätten. Nicht wenige Tiere entkamen, weil Fesseln gelöst waren und Stalltüren offen standen, was wiederum zu mancher Anschuldigung gegenüber Ehefrauen, Kindern und Gesinde führte, zu Backpfeifen, Kopfnüssen, Tränen und Unschuldsbeteuerungen. Mehr noch, Lebensmittel verschwanden oder waren angeknabbert, von Würsten und Käse-Laibern fehlten Ecken und Herdfeuer entzündeten sich ganz allein, so dass Suppen überkochten oder Fleisch verbrannte. Die Männer ärgerten sich über verlegtes Werkzeug, die Frauen über zerquetschte Eier im Hühnerstall und alle staunten nicht schlecht, als sie im Fell der Lämmer dieses Jahres runde Löcher fanden. Nachts schreckten die merkwürdigsten Geräusche die Bewohner aus dem Schlaf, denen sie anfangs nachgingen, aber als sie weder Katzen, Mäuse oder Ratten fanden, nur noch mit der Heimsuchung durch jene bereits erwähnten bösen Geister erklären konnten. So blieben sie in ihren Betten, zogen bleich und schlotternd die Decken über die Köpfe und hofften, dass der Spuk bald vorbei sei und sich der Schaden in Grenzen halte.
Eines der unerklärlichsten Ereignisse fand beim alten Bastian statt, als sein als aggressiv und deshalb allseits gefürchteter Hahn eine halbe Stunde lang stocksteif auf dem Hof stand, in einer Haltung, die auf eine Verfolgungsjagd schließen ließ, in deren Verlauf ihn der Blitz getroffen haben musste. Aber kein Haar war ihm gekrümmt, starr blickte er geradeaus, kein Ton kam aus seinem Hals. Das Phänomen sprach sich in Windeseile im Dorf herum, er wurde zur Attraktion für Jung und Alt, die den schrecklichen Hahn nun gefahrlos von allen Seiten beäugen konnten. Man überbot sich im Aufstellen von Mutmaßungen und Theorien, was ihm wohl zugestoßen sein könnte. Aber noch während sie das taten, erwachte der Unhold plötzlich aus seiner Erstarrung, sah sich von einer gaffenden Menge umringt, sein Kamm schwoll zu feuerrotem Zorn an und dann stürzte er sich mit wildem Geschrei auf die ihm Nächststehenden. Die Dorfbewohner stoben in Panik davon, der Hahn hinter ihnen her, zwickte mal dem einen in die Wade, mal dem anderen ins Ohrläppchen, rupfte Haarbüschel aus, grub blutende Löcher in Schultern, wo er mit seinen scharfen Krallen Halt suchte, kurzum, er veranstaltete ein solches Massaker, dass so mancher anschließend mit Salben und Tinkturen behandelt werden musste.
Am nächsten Tag, nach einer allgemeinen Versammlung und Beratung zu diesem ungeheuerlichen Vorfall, forderte man den alten Bastian auf, dem Hahn den Hals umzudrehen. Auch sollte er selber für einen neuen Sorge tragen, da er zu viel Unheil angerichtet habe und nicht auch noch Schadenersatz fordern könne für ein von Geburt an boshaftes Viech, das nun vollends übergeschnappt war. Der Hahn wurde geschlachtet und über dem Feuer am Spieß knusprig gebraten, was im ganzen Dorf zu riechen war und jeden zufriedenstellte. Und als im Oktober wieder Ruhe einkehrte, waren sie heilfroh und hofften, dass der Friede lange erhalten bleiben möge.
Noch eine Veränderung brachte der verwunschene September mit sich. Gernot, ein hochgewachsener Mann im besten Alter, mit außergewöhnlichen Kräften in den Armen und ebensolchen geistigen Fähigkeiten, erklärte den verdutzten Dorfbewohnern, dass es in solch unsicheren Zeiten eines Anführers bedürfe, der die Gemeinschaft leiten und schützen könne. Da niemand unter ihnen Gernot an Redegewandtheit gewachsen oder gar überlegen war, mangelte es an Gegenargumenten und auf diese Weise bekam das Dorf nun einen Beschützer. Der bestimmte kurz vor seinem Tod seinen erstgeborenen Sohn zum Nachfolger, was ebenfalls widerspruchslos hingenommen wurde und sich von da an von Generation zu Generation wiederholte. Einen Höhepunkt erreichte die Karriere der Gernot‘schen Nachfahren mit der Verleihung des Adelstitels ‚Graf‘ – doch davon später.
Bombur, Durin und Nidi waren nach der glücklichen Landung zuhause von ihren Familien mit großer Freude und Erleichterung empfangen worden. Natürlich schielte man zugleich verstohlen auf die mitgebrachten prallvollen Säcke, die Zimbel und Trudi transportiert hatten und von denen man annahm, dass sie voller Reiseandenken steckten. Aber obwohl sie schier barsten vor Neugierde, war eine der ersten Fragen, die verriet, dass sie ihre alte Heimat nicht vergessen hatten: „Hast du Nordmänner gesehen?“
„Nein,“ schüttelte Bombur den Kopf, „aber gehört, dass sie erobernd und plündernd durch die ganze Welt ziehen … Angst und Schrecken verbreiten sie.“
„Das wundert mich kein bisschen, denn ich kann mir denken, woher sie das Eisen für ihre Waffen haben,“ unterbrach ihn sein Vetter Nain mit funkelnden Augen.
Alle nickten zustimmend – nur zu gut erinnerten sich die älteren unter ihnen der fremden Gnome, von denen sie einst so brutal vertrieben worden waren.
„Was die Dorfbewohner hier anlangt“, fuhr Bombur fort, „sie jammern immer noch ihrem Großen Kaiser nach, Karl hieß er, obwohl er schon so lange tot ist. Unter ihm soll angeblich alles besser gewesen sein. Der Wald gehörte ihm auch, und heute seinem Nachfolger Heinrich I von Sachsen, der erst letztes Jahr zum König gekrönt wurde. Der kümmert sich aber auch nicht, weil er noch Hunderte andere hat.“
„Erzähl uns, wie ihre Häuser aussehen.“
„Sind alle aus Holz und sehen alle gleich aus … bis auf eines, das ist größer als die anderen. Der Mann, der dort mit seiner Familie lebt, heißt Gernot.“
„Ist er auch ein König oder ein Weiser Mann?“
„Weder noch … aber es würde mich nicht wundern, wenn er es noch weit bringen würde. Er ist ein wenig schlauer als die anderen, hat mehr Ziegen, Schafe, Schweine und Rinder. Er ist besser gekleidet als die anderen Männer in ihren ausgebeulten, geflickten Beinlingen und grobgewebten Hemden. Und seine Frau, die besitzt eine ganze Truhe voller Kleider … ein blaues, ein gelbes, ein grünes und ein rotes … so rot wie Blut, ich schwöre es.“
„Rot? Wie machen