Ich bin dein Hirte. Marc Rosenberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Rosenberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643500
Скачать книгу
beobachte, wie sie sich vorstellt, wobei ich sie beobachtet haben könnte. Ihre letzten Wochen in Freiheit, in ihrem sogenannten „Leben“ ziehen kurz an ihr vorbei.

      „Warum tun Sie das? Warum quälen Sie mich so? Warum ich, was habe ich Ihnen getan?“

      „Nichts. Du bist einfach nur Teil meines kleinen Experiments. Teil meiner Welt.“

      „Experiment?“, ruft sie außer sich, reist sich dann aber doch zusammen. Die Angst geschlagen zu werden ist übermächtigt, beherrscht sie immer mehr. Sie kontrolliert ihr Handeln.

      Trotzdem, sie ist kurz davor zu explodieren. Das sieht gut aus. Sie zornig zu sehen. Ich lasse ihr einen Moment, um sich zu beruhigen. Ihre Haut ist angespannt. Ihre Brüste heben und senken sich. Noch widerstehe ich dem Wunsch, dem Verlangen sie zu berühren. Das ist nicht leicht. Zu widerstehen. Sie ist mir ausgeliefert, schutzlos. Ich kann machen, was ich will und wann ich will, jetzt, später, gar nicht. Aber ich will. Ich werde es tun. Ich will spielen.

      Ist das gut. Oh, ist das gut. Sich zu beherrschen in Anbetracht der Begierde, des Verlangens. Sie zu beherrschen in Anbetracht ihrer Bereitwilligkeit.

      „Bin ich hier, weil ich aussehe, wie ich aussehe?“

      Sie will es begreifen, immer noch. Sie scheint sich noch nicht abgefunden zu haben, mit dem Unausweichlichen.

      „Nein, es hat damit nichts zu tun. Du könntest auch hässlich sein. Das hat auch seinen Reiz. In gewisser Hinsicht.“

      Sie hat wirklich noch viel Kraft und Energie.

      „Ich studiere den Zerfall.“

      Ich warte und gebe ihr Zeit, es zu verstehen.

      „Erst den inneren, dann den äußeren Zerfall. Ab einem bestimmten Zeitpunkt verläuft beides parallel. Das ist sehr interessant. Weil es unterschiedlich ist. Ich habe den Eindruck, dass es etwas mit der psychischen Konstitution zu tun hat.“

      Obwohl ich ihre Augen nicht sehen kann, spüre ich deutlich, fast sinnlich das Entsetzen, das sie erfasst. Sie hat es verstanden.

      „Ich bin nicht die erste.“

      „Und nicht die letzte.“

      „Oh, mein Gott.“

      „Der wird dir nicht helfen. Der hat noch niemandem geholfen. Der ist auf meiner Seite. Sonst wärst du nicht hier, bei mir. Denn ich bin der Hirte. Ich werde dich weiden und zum frischen Wasser führen. Denn ich bin dein Hirte. Ich bin da. Ich werde für dich sorgen, in der Dunkelheit. Werde dich trösten, wenn du traurig bist.“

      Ich drehe mich um und lasse sie damit erst einmal allein.

      „Du musst mehr trinken.“

      „Sie gehen schon wieder?“ Sie kniet noch immer, jetzt nur noch neben dem Bett, nicht mehr vor mir.

      „Trink.“

      Das bereitet ihnen den meisten Stress, das Alleinsein. Damit können sie überhaupt nicht umgehen. Es ist nicht die physische Bedrohung. Es sind die elementaren Dinge wie Licht, Zeit, Wasser, Kontakt, Berührungen, Nacktheit. Kommunikation. Gefickt werden oder eben nicht gefickt werden. Und das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Hilflosigkeit. Sie hat angefangen sich an alles zu klammern, was Erlösung bietet. Milderung.

      Schade. Vollkommen überflüssig. Nutzlos.

      Ich ziehe die Tür hinter mir zu. Und schalte die Mikrofone und die Kameras wieder ein. Es wird still.

      Ich gehe nach oben. In die Küche, und schaue hinaus.

       2.

      Sie beobachten mich. Ich weiß es. Ich fühle es. Mit verbundenen Augen. Ich kenne die Dunkelheit, diese Finsternis, die in mir steckt, weil sie mich umgibt, sie steckt in mir, ich weiß es. Ich sehe, dass sie mich beobachten. Weil ich sie schon vorher sehe, rieche, fühle, spüre. Ich weiß, was um mich herum geschieht, ohne es zu sehen. Meine Sinne, auf die kann ich mich verlassen.

      „Ich höre dich, Mama. Ich weiß, dass du kommst.“

       Das spüre ich. Ich spüre dich Mama. Gleich kommst du. Gleich bist du da. Ja? Du bist gleich bei mir. Ich warte. Ja, ich kann warten. Ich warte auf dich, weil du gleich kommst.

      „Hab einfach keine Angst. Ich habe keine Angst. Keine Angst. Angst tötet dich. Überwinde die Angst. Hab keine Angst vor der Angst. Nimm sie auf. Nimm die Angst in dir auf. Werde eins mit der Angst. Lebe sie. Werde zur Angst, spiel mit ihr.“

      Mir reicht es schon, wenn ich morgens aus dem Fenster schaue: Umgeben von der bedeutungslosen und lasterhaften Triebhaftigkeit dieser Leute. Sie kommen immer näher. Gefährlich nah. Gefährlich für sie. Freundlich lächelnd und mitteilungsbedürftig. Aber ich habe angefangen, dem ein Ende zu bereiten. Eigentlich ist es immer nur reine Neugierde, wenn sie fragen: „Wie geht’s?“ Das war immer schon so. Sie drängen sich auf. Sie wollen nicht wissen, wie es einem geht, sie wollen wissen, wie viel schlechter als ihnen es einem geht. Ich schaue hinaus und sehe: Umgeben und bedroht von der Unumgänglichkeit des Aufeinandertreffens mit diesen Leuten. Sozialkontakte. Vollkommen asozial. Distanzlos und aufdringlich. Konfrontiert mit der Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren, der Unausweichlichkeit beim Heraustreten aus meiner wohl geordneten Welt, einem homo sapiens zu begegnen. In meiner Welt. Ein Mensch, der mir freundlich einen guten Tag wünscht, und der mich deswegen schon am Arsch lecken kann, weil ich ihm beim Felgenreinigen zuschauen muss, weil er es tut, während ich aus dem Haus komme. Er dringt ungefragt ein in meine Welt. Sie können einfach nicht nichts tun. Sie schaffen es nicht.

      „Sie müssen Ihre Hecke mal wieder schneiden.“

      Da kann man doch nur beleidigend werden.

      Seine Bedeutungslosigkeit in meiner Welt schreit mich an, von der er aber keinerlei Ahnung hat. Er ist aber davon überzeugt, von Bedeutung zu sein und das auch zur Schau stellen will, mit allen Mitteln und einen viel zu kleinen Schwanz hat. Und ich weiß, dass ein einzelner Finger Wunder wirken und eine geschickte Zunge in Ekstase versetzen kann. Und Angst. Angst, nicht zu wissen, wann er kommt, der Schmerz, man aber weiß, dass er kommt.

      Selig eingelullt in seiner mich anspringenden und ankotzenden Bedeutungslosigkeit steht er vor mir und sagt: „Guten Tag.“ Kann es schlimmer kommen? Ja. Viel schlimmer sind jene Mitmenschen, die der festen Überzeugung sind und darin auch noch unterstützt werden, sich vom bedeutungslosen Durchschnitt abzuheben und andere an ihrem Leben teilhaben lassen wollen, ob die nun wollen oder nicht. Die kommen dann im Fernsehen. So oder so. Oder im Internet. Die, die sich das anschauen, wollen sich das auch anschauen. Wir treffen jeden Tag Entscheidungen. Jeden gottverdammten Scheißtag.

      All das reicht vollkommen aus, um mir bereits früh am Morgen den Tag zu versauen. Und dann wundern sie sich, wenn es passiert. Gestern, heute, jetzt. Immer wieder, und plötzlich fehlt einer. Manchmal ist es nur der Hund oder die Katze vom Nachbarn, die nervt, und dann eines Tages nicht mehr. Eines schönen Tages wache ich auf und niemand nervt mehr. Für eine gewisse Zeit jedenfalls.

      Ich habe gelernt, allein zu sein.

      „Ich habe doch gerufen, oder? Aber niemand kommt. Ich habe doch gehorcht, bis ich nichts mehr gehört habe. Nur taube und dumpfe Stille. Und ich habe doch geschaut, bis ich nichts mehr gesehen habe. Nur klare, konturenlose Dunkelheit.“

       Ich habe gelernt. Ich habe es verstanden. Ich habe gelernt, mit nichts zu leben. Wenn ich rufe und niemand reagiert. Ich habe gelernt mit mir selbst klar zu kommen, meine Geräusche zu lieben. Weil es das einzige ist, das ich höre. Weil es das einzige ist, das ich habe.

      Wenn ich nur beleidige, haben sie noch Glück gehabt.

      Manchmal sage ich auch einfach nur artig „Guten Morgen“, obwohl ich denke: Fick dich doch selbst ganz doll ins Knie. Sonst mache ich es. Nur wieder einer mehr, der mich am Arsch lecken kann. Aber er steht auf meiner Liste.

      Und der merkt das nicht einmal. Macht einfach