Marc Rosenberg
Ich bin dein Hirte
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Inhaltsverzeichnis
1.
„Am Leben bleiben“, flüstert sie.
Ich liebe sie für ihre Worte, ich liebe diese Stimme umso mehr, je öfter ich sie höre, ihren Klang, ihren Ton, die Vibrationen, die sie erzeugt.
„Du musst nur lebendig bleiben“, fährt sie fort, „nur am Leben bleiben. Reiß dich zusammen. Es ist unbedingt notwendig am Leben zu bleiben ... am Leben bleiben. Es ist lebensnotwendig“, sagt sie nachdrücklich, aber ihre Angst und ihre Nervosität sind nicht zu überhören. Sie ist kurz vor der Panik.
Schön. Noch kann sie sich kontrollieren. Noch. Obwohl sie flüstert, spricht sie sehr deutlich, jedes einzelne Wort. Wie um sich selbst von der Bedeutung und der Kraft ihrer eigenen Wörter zu überzeugen. Sie ist noch stark. Faszinierend. Ah, meine Haut kribbelt. Ist das gut.
Dann atmet sie wieder schnell. Und seufzt tief. Atmet ein und atmet aus. Deutlich hörbar.
Ich weiß schon, was jetzt kommt.
„Ich will doch nur leben“, flüstert sie noch immer. „Am Leben bleiben. Atmen. Ich muss doch nur einatmen und ausatmen. Das ist einfach, das schaffe ich. Ich schaffe es“, macht sie sich Mut. „Das ist einfach. Ich bleibe am Leben. Irgendwie. Ich zähle bis zehn, und dann wache ich auf, und wenn nicht, dann fange ich wieder von vorn an. Ja, das schaffe ich.“
Ihre Stimme wird noch leiser und bricht am Ende, sie beginnt zu schluchzen. Und hustet. Ich kann alles gut hören, die Mikrofone sind gut, auch die Bilder, viele Details sind zu sehen. Das Gesicht. Ihre Haut. Die kleinen Härchen, die ihr an Armen und Beinen zu Berge stehen. Selbst ihre Scham steht ihr zu Berge. Vor Aufregung. Was für ein Anblick! In ihrem Innersten bebt und zittert sie. Ich kann es sehen.
Trotzdem bin ich überrascht wie viel Lebenswille, wie viel Kraft sie noch hat. Es freut mich. So habe ich mehr davon, und sie auch. Ja, sie nötigt mir Respekt und ein kleines Lächeln ab. Ich schalte die Mikrofone aus und auch die Kameras. Dann erst öffne ich langsam die Tür. Sie knarrt. Sie zuckt zusammen und ... erstarrt. Und dreht den Kopf ruckartig in meine Richtung. Sie hat in der Zeit, in der sie bei mir ist, gelernt auf jedes kleine Geräusch zu achten. Hochachtung. Ich warte kurz und genieße, was ich sehe, dann erst bewege ich mich langsam und vorsichtig, nahezu geräuschlos, in ihre Richtung. Meine nackten Füße berühren den kalten Boden. Das ist angenehm. Ihr Kopf folgt mir. Sie ahnt, sie fühlt, wo ich mich befinde. Aber sie sieht mich nicht, sie kann mich nicht sehen. Ihr Körper ist angespannt, in Erwartung des Unerwarteten. Des Nichtvoraussagbaren. Unberechenbar. Das fördert die Angst. Ich habe sie soweit. Es ist Angst. Sie zittert. Erst war es Ungewissheit, dann Hoffnungslosigkeit, und jetzt ist es reine, pure Angst. Ihre Brüste sind gespannt, ihre Brustwarzen hart. Deutlich zu sehen. Sie erwartet mich. Aber ich werde sie nicht berühren, noch nicht. Auch wenn sie nicht weiß, was sie erwartet. Ich bin freundlich gewesen, nicht unhöflich oder grob. Ich bin zu ihnen immer freundlich. Sie bekommt, was sie braucht. Und zärtlich bin ich. Ja, ich kann sehr zärtlich sein.
Ich stehe direkt vor ihr. Und warte. Sie spürt meine körperliche Nähe. Ich spüre ihre Wärme. Und ihre Angst. Ich rieche sie, ich kann ihre Angst riechen. Und drunter: sie selbst. Es ist überwältigend.
Die meisten können nicht warten. Das ist für viele unerträglich. Nicht zu wissen, wann es passiert, oder wann überhaupt etwas passiert. Was passiert. Aber es passiert immer etwas, irgendwann passiert es. Und selbst wenn nichts passiert, passiert etwas, denn mit Nichts muss man auch umgehen können. „Nichts“ wird unterschätzt. Sträflich vernachlässigt. Das rächt sich eines Tages. Denn auch Nichts ist etwas. Das wissen die wenigsten. Ich weiß es, ich habe es erfahren. Ja. Ich weiß, was Dunkelheit ist. Darin befindet sich das Nichts.
Sie darf mich nicht sehen.
Es ist so still. So entsetzlich still. Und dunkel. Fast greifbar. Feste Dunkelheit. Als könnte ich sie mit einem Messer schneiden und zerlegen.
„Mama?“
Nichts.
„Mama! Bitte!“, flüsterte ich. Aus Angst, dass er mich hören könnte. Wie lächerlich.
„Lass mich nicht allein, Mama. Lass nicht zu, dass er mir weh tut. Und warum ist es so still? Wo bist du?“
Und wieder höre ich nur Geräusche. In der Dunkelheit. Ich lauere und warte. Und mache mir meine eigenen Bilder. Ja, eigene Bilder. Noch darf sie mich nicht sehen.
Ich kann warten. Auf den richtigen Moment. Den gibt es, immer. Ich habe immer schon warten können. Bis ich bekam, was ich wollte. Heute helfe ich nach. Wenn es nicht anders geht. Ich mache mir meine eigene Wirklichkeit. Fantasie