Schnupfen und Döner
Nun ist es Sdoch passiert. The Kid hat sich, trotz aller Vorsicht, ein Virus eingefangen. Zum Glück ist es nur ein Schnupfen-Virus. Aber was bringt die größte Vorsicht und die strengste Isolation, wenn einem dann doch ein Virus frei Haus geliefert wird? The Kids Dad kam mit dem Zug nach München. Und ich war voller Vorfreude auf ein paar Tage Entlastung. Vielleicht mal Schwimmen gehen, mal wieder richtig Shoppen gehen, einen vegetarischen Döner essen. Und endlich einmal wieder ausschlafen.
Hätte ich bloß nicht so viele Pläne gemacht. The Kids Dad fuhr mit dem ICE und eigentlich hätte ich es mir schon denken können. Denn er kam schon eher liegend als stehend an. Da er aber zunächst nur schlapp wirkte, haben wir uns anfangs eben doch nichts dabei gedacht. Reisen kann nun einmal anstrengend sein. Und so sprach nach einer gründlichen Desinfektion nichts gegen ausgiebiges Begrüßungsknuddeln.
Am nächsten Morgen hatte Dad einen dicken Schnupfen. Und da war es dann auch schon zu spät, the Kid hatte sich angesteckt. Natürlich können wir uns trotzdem glücklich schätzen, dass es nur ein Rhino-Virus ist. Ein Tag Fieber, Besuch beim Kinderarzt, Fließschnupfen. Die tollen Nasentropfen, die uns der Kinderarzt verschrieben hat, dürfen nur fünf Tage verabreicht werden. Nachdem mir the Kid am zweiten Tag ins Gesicht genießt hatte, lag dann auch ich einen Tag flach. Nun ja, sagen wir mal so: Es wäre schön gewesen, mal einen Tag im Bett zu verbringen. Aber Müttern ist das nun mal nicht vergönnt. Mit Mundschutz und peinlichst desinfizierten Händen habe ich natürlich, wie jeden Tag, seine Medikamente vorbereitet, ihm seine Milch angerührt und war auch sonst da, wie immer.
Mit Mundschutz zu schlafen ist ekelhaft. Irgendwie habe ich am nächsten Morgen immer das Gefühl, noch kränker zu sein, weil ich die ganzen Viren, kaum ausgeatmet, wieder inhaliere. Aber ich wollte vermeiden, the Kid zurück anzustecken oder einen weiteren Keim auf seine ohnehin schon geschwächte Nasenschleimhaut zu setzen.
Mittlerweile bin ich wieder gesund. Aber the Kids Nase produziert noch immer fleißig Nasensekret, das überall kleben bleibt. Ich komme mit dem Näschenwischen schon gar nicht mehr nach. Gestern früh bekam ich kurz einen Schreck. Wie kommt hier eine Weinbergschnecke rein? Und übertragen Weinbergschnecken Krankheiten? Aber warum hat sie ihre Spuren nur auf den Kuscheltieren hinterlassen? Nein, auf dem Schlafsack war auch eine Spur… Als ich the Kid fragend anschaute, löste sich das Rätsel schnell. Er hat einen Weg gefunden, seine Nase selber zu „putzen“. Sie wird an allem was weich ist, wie Kuscheltieren, Kissen oder eben dem Schlafsack, einmal kurz gerieben, bis sie wieder für kurze Zeit frei ist und alles andere mit feinen Schneckenspuren überzogen ist.
Der Kleine tut mir so leid, wie er mich mit offenem Mündchen anschaut und ganz unglücklich seine Ärmchen nach mir ausstreckt. Wie soll ich ihm bloß helfen? Und da ist sie wieder, die Frage, die immer im Raum steht und mir in solchen Augenblicken die Absurdität unserer Situation ganz brutal vor Augen führt. Wie soll ich the Kid helfen? Ich würde so gerne seine Selbstheilungskräfte aktivieren, sein Immunsystem stabilisieren. Aber genau das ist bei organtransplantierten Menschen ja unerwünscht.
Mir ist dann zum Glück das Rezept für ein altes Hausmittel eingefallen. Eine Zwiebel klein schneiden, in einer Schüssel verteilen und nachts im Schlafzimmer auf das Fensterbrett stellen. Das stimuliert nicht das Immunsystem, aber die ätherischen Öle sollen die Nasenschleimhaut abschwellen lassen und Keime neutralisieren. Ich muss zugeben: Es stinkt erbärmlich, aber – oh Wunder – die Nase blieb in dieser Nacht fast frei. Seitdem habe ich jede Nacht die Zwiebelschale aufgestellt.
Gestern brachte mir meine Nachbarin ein Päckchen vorbei. Sie schnupperte kurz. „Oh. lecker. Döner!“ sagte sie dann. Der Zwiebelgeruch. Ich hatte mich schon so daran gewöhnt, dass ich ihn gar nicht mehr wahrnahm. Na also, ich war zwar nicht shoppen und auch nicht schwimmen. Aber ich hatte immerhin meinen Döner. Naja, zumindest glaubt das meine Nachbarin.
Fast normal
Es gibt Tage, an denen läuft alles gut. Die Schnupfennase ist fast weg, the Kid isst sein Gemüse und ich habe ganz automatisch ein kaliumarmes Rezept aus dem Ärmel geschüttelt. The Kid hat mehrmals freiwillig zur Trinkflasche gegriffen und sich sogar seine drei Zähnchen putzen lassen. In der Physiotherapie hat er große Fortschritte gemacht und im Wartezimmer saß eine gutgelaunte Mutter mit einem gutgelaunten Baby. Wir Mütter haben ein paar Worte gewechselt und die Babies haben sich angestrahlt. An solchen Tagen könnte man fast denken, dass wir normal sind.
Solange es Tage wie diesen gibt, bin ich zufrieden, dann ist die Bedrohung, die sonst über uns schwebt, fast vergessen. Plötzlich ist es dann ganz leicht, sich einzubilden, dass unser neuer Ostheopath the Kid bei seinen Nierenproblemen (die durch die Medikamente entstanden sind) und den Bauchmuskeln (die für die Transplantation komplett durchtrennt werden mussten) helfen kann. Es fällt dann auch leicht, zu glauben, dass wir den Nierenschaden durch ausreichend Flüssigkeitszufuhr und kaliumarme Ernährung aufhalten können. An solchen Tagen ist es auch plötzlich nicht mehr so schlimm, dass wir auf die Ernährung achten müssen, ich ihm nie einfach spontan eine Banane zerdrücken kann, und ich ständig die Waage zwischen gesund und ungesund halten muss. Was ja leider so oft widersprüchlich ist. Heute ist so ein Tag, die Sonne scheint, the Kid spielt mit meinen Büchern und lässt mich schreiben. An diesen Tagen ahne ich, wie es sein könnte.
Eine Muttter aus dem Krankenhaus sagte einmal, als ich sie fragte, ob sie noch weitere Kinder habe: „Ja, einen älteren Sohn,“ Dann begann sie zu weinen und fügte hinzu „Das macht es ja so schwer, weil ich genau weiß, wie es ist, ein gesundes Kind zu haben.“ Das hat mir damals einen Schlag versetzt, mir in aller Klarheit unsere Andersartigkeit vorgeführt. An Tagen wie heute weiß ich, was sie gemeint hat. Und ein wenig Schwermut schwingt bei aller Freude mit. Denn, auch wenn es sich manchmal so anfühlt: unser Leben ist nicht normal und wird es wohl niemals sein. Aber ich werde mir trotzdem die lllusion bewahren, mir ab und zu eine Pause auf dieser Insel der Normalität gewähren.
Dass ich diese Quellen der Kraft brauche, ist mir völlig klar. Andere Menschen lesen Liebesromane, träumen vom Lottogewinn oder davon, berühmt zu sein. Und ich gönne mir die Illusion von Normalität. Zum Glück gibt es Tage wie diesen. Da fällt das Träumen leicht.
Verlorene Eltern
Heute bin ich keine starke Mama. Heute bin ich schwach und traurig und unsagbar wütend. Ich habe einen Anruf erhalten. Ein kleines Mädchen ist gestorben. Sie war sechs Jahre alt. Ein fröhliches kleines Mädchen, das gerne rosa Kleider trug und, als ich sie vor ein paar Wochen das letzte Mal traf, mit ihren Puppen und Teddys gespielt hat und erzählt hat, dass sie später mal Ärztin werden will.
Ihre Mutter und ich waren gemeinsam bei den Voruntersuchungen zur Lebendspende. Wir haben gemeinsam gehofft, dass wir für unsere Kinder als Spenderinnen in Frage kommen. Und waren so glücklich, als es für beide das Okay gab. Gestern ist die Kleine an einer Lungenentzündung gestorben. Und ich bin sprachlos.
Diese Nachrichten, diese Anrufe kommen immer wieder, dass eines der Kleinen für immer gegangen ist. Die Anrufe kommen nicht von ihren Eltern. Wie auch? Die sind sprachlos und verloren in ihrer Trauer.
Man lernt in der Klinik viele Leidensgenossen kennen. Und das ist wichtig. Man bangt zusammen, fiebert mit, freut sich bei Fortschritten, weint gemeinsam, wenn es mal nicht so gut läuft. Auch lachen konnten wir gemeinsam, denn wir wussten, auch bei den anderen ist das Leid und die Sorge immer da. Das macht das Lachen im gemeinsamen Leid leichter. Und man hofft gemeinsam. Gibt sich gegenseitig Kraft, spricht sich Mut zu. Freut sich über große und kleine Wunder. Man wird zu Freunden, man versteht sich auch ohne Worte. Teilt Freud und Leid. Über Wochen, Monate. Und dann stirbt eines der Kinder.
Ich habe im letzten Jahr so viele Kinder sterben sehen.