Plötzlich fiel Misha ein, was die Märchenfrau damals zu ihm gesagt hatte: „Die Leute werden dir zuhören.“
Und es stimmte. Die Leute auf der Straße waren alle reihenweise stehen geblieben, um ihm zuzuhören.
„Wann ist dieses Konzert“, fragte er Valerie.
„Es ist morgen um fünf Uhr. Du kannst aber schon ein bisschen früher kommen, sagen wir um vier“, gab Valerie zur Antwort, „Komm einfach hierher, dann werde ich dir alles Weitere erklären.“
Misha nickte, verabschiedete sich von Valerie und ging wieder hinaus. Er konnte sein Glück noch gar nicht fassen. Die Märchenfrau musste eine gute Fee oder so etwas gewesen sein, denn seit er die Flöte hatte, passierten die wunderbarsten Dinge. Er bekam viel Geld, er musste nicht mehr stehlen, er fror nicht mehr in der Kälte, er konnte im Café sitzen und jetzt sollte er sogar ein Konzert geben. In dieser Nacht schlief Misha wunderbar und er träumte davon, wie die Leute ihm zujubelten und immer mehr von ihm hören wollten, wie er ganze Hallen füllte und schließlich in einer wunderschönen Villa mit Pool und Dienstboten lebte, wie die Leute vor seiner Tür Schlange standen, um ein Autogramm zu bekommen...doch ein polterndes Geräusch riss ihn aus seinen Träumen und durch seine schlaftrunkenen Augen konnte er seinen Vater wahrnehmen, der vor seinem Bett umherlief. Auf einmal fiel Misha ein, dass er vor lauter Gedanken vergessen hatte die Flöte in seinem Schuh und seinem Leistenversteck zu verbergen. Sein Herz machte einen gewaltigen Sprung und sein Atem ging plötzlich schneller. Er musste sich eiligst etwas einfallen lassen, aber da war es schon zu spät. Sein Vater hielt bereits seine Jacke, die auf dem Boden in der Ecke gelegen hatte in der Hand und begann die Taschen zu durchsuchen.
„Bitte“, hoffte Misha im Stillen, „bitte lass ihn die Flöte nicht finden“, aber er wurde nicht erhört, denn schon hatte sein Vater sie in der Hand.
Mit einem Satz war Misha aus dem Bett, vergessend dass er sich schlafend stellen wollte und schrie: „Das gehört mir!“
Sein Vater fuhr erschrocken herum, dachte aber nicht daran die Flöte herzugeben, sondern hielt sie mit der einen Hand fest und versetzte Misha mit der anderen einen Stoß, so dass dieser nach hinten fiel.
„Wozu brauchst ne Flöte“, lallte er. Sein Atem stank furchtbar nach Alkohol und er konnte kaum noch stehen, aber Misha wusste, dass er gerade in diesem Zustand Bärenkräfte entwickeln konnte.
Er fühlte Angst und Wut zugleich, aber die Wut war ein bisschen stärker, also schrie er: „Gib das her! Das gehört mir und geht dich gar nichts an!“, aber sein Vater achtete gar nicht auf ihn, sondern brabbelte vor sich hin: „Geld machen...spielt keiner Flöte“, dann wandte er sich Richtung Tür, die Flöte noch immer in der Hand.
Misha wollte hinterher, doch plötzlich verspürte er die Angst, die jedes Mal kam, wenn sein Vater in diesem Zustand war und er fühlte sich wie gelähmt, unfähig sich zu rühren. Er wollte seinem Vater die Flöte aus der Hand reißen, war aber nicht mal fähig etwas zu sagen. Heiße Tränen der Wut und Enttäuschung liefen über seine Wangen, wobei er mehr wütend auf sich selbst war, als auf seinen Vater, weil er die Flöte einfach vergessen hatte. Er fühlte sich schwach, klein und unnütz und alles schien auf ihn einzustürzen. Langsam sank er auf seinem Bett nieder und schloss die Augen, um nichts mehr von dieser Welt zu sehen. Nach einer Weile beruhigte sich sein Herzschlag, sein Atem ging ruhiger. Er überlegte was zu tun sei. Vielleicht gelang es ihm die Flöte zurückzuholen, wenn sein Vater schlief oder vielleicht konnte er morgen früh vernünftig mit seinem Vater reden. Er lauschte, es war kein Geräusch aus den anderen Zimmern zu hören, aber er musste sich trotzdem noch eine Weile gedulden. Er versuchte an etwas Schönes zu denken, aber das trieb nur wieder die Tränen in seine Augen, weil seine Traumbilder einfach so verpufften. Seine Augen drohten ihm zuzufallen, er war hundemüde, dennoch hielt er sie mit aller Gewalt offen. Als er eine Weile gewartet hatte und kein Geräusch mehr aus der Wohnung zu hören war, stand er auf und schlich auf Zehenspitzen hinaus in den Hausflur. Sein Vater schlief im Wohnzimmer, halb auf dem Tisch, halb auf dem Sofa, die Flöte war aber nirgends zu sehen. Misha durchsuchte das Wohnzimmer, sah in alle Schränke, durchsuchte die Taschen seines Vaters, der sich nicht mehr rührte, suchte am Boden und auf und unter dem Tisch, aber nirgends war sie zu finden. Er sah im Gang nach, im Schlafzimmer seines Vaters, in der Küche und im Bad. Je länger er suchte, umso größer wurde seine Verzweiflung, aber von der Flöte keine Spur. Wieder stiegen Tränen in seine Augen, auch wenn er sich verzweifelt dagegen wehrte. Was sollte er Valerie sagen? Er konnte doch auf keiner anderen Flöte spielen und er würde niemals wegkommen aus dieser Wohnung und von diesem Vater, der nichts als Trinken im Kopf hatte. Langsam ging Misha zurück zu seinem Bett, lies sich darauf fallen und starrte durch den Schleier seiner Tränen zur Decke. Er sah keinen Konzertsaal mehr, sondern einen kleinen, reichen Jungen, der von seinen Eltern zum Geburtstag seine Flöte geschenkt bekam, obwohl er gar nicht darauf spielen konnte. Irgendwann war Misha so müde, dass ihm die Augen zufielen und als er sie wieder aufschlug war bereits heller Tag. Voller Panik sprang er aus dem Bett, denn wenn er zu lange geschlafen hatte war sein Vater vielleicht schon weg und mit ihm die Flöte. Eiligst zog er sich seine Kleider über und lief hinüber ins Wohnzimmer, aber schon im Gang bemerkte er, dass die Schuhe seines Vaters nicht da waren und seine letzte Hoffnung erlosch. Was sollte er bloß tun? Er kämpfte damit nicht schon wieder zu weinen und überlegte, was sein Vater tun würde, wenn er die Flöte zu Geld machen wollte. Wahrscheinlich würde er sie zum alten Oleg bringen. Ja, das war seine Chance. Wenn der alte Oleg die Flöte hatte, konnte er sie vielleicht zurück kaufen. Schnell lief Misha in sein Zimmer und nahm alles Geld aus seinem Versteck mit, dann verlies er die Wohnung. Draußen war es nicht mehr ganz so kalt und es schneite leicht, die Bäume, Häuser und Autos waren schon weiß gefärbt. Normalerweise hätte sich Misha gefreut, denn er mochte Schnee, aber heute hatte er keine Augen dafür. Er lief hindurch, ohne überhaupt recht zu begreifen, dass es schneite und sein Schritt war so schnell, dass er schon kurze Zeit später vor Olegs Laden stand. Die Tür öffnete mit einem lauten Bim – Bam und schon konnte Misha die Fellmütze des alten Oleg hinter einem riesigen Holzschrank, der fast mitten im Raum stand, erkennen. Olegs Gesicht sah um die Ecke und als er Misha erkannte machte er ein paar Schritte auf ihn zu.
„Na“, meinte er grinsend, „dein Vater war wohl doch nicht so begeistert vom Flötenspiel.“
Früher hatte Misha den alten Oleg eigentlich immer gemocht, hatte bei ihm Tee getrunken und gutes Geld von ihm bekommen, aber heute hasste er ihn und wusste nicht einmal genau weshalb.
„Hast du sie?“ fragte er und versuchte seine Aufregung zu verbergen, aber zu seinem Entsetzen schüttelte Oleg den Kopf.
„Hab sie grade verkauft“, antwortete er und zeigte nach draußen. „Dort der Mann, dem der Lastwagen gehört hat sie für seine Tochter gekauft.“
Misha sah nach draußen. Dort stand tatsächlich ein Lastwagen mit großen roten Streifen an der Seite. Oleg schien seine Aufregung nicht zu verstehen und meinte: „He, arbeite doch wieder für mich, vergiss einfach...“, aber Misha hörte ihm gar nicht mehr zu, sondern stürmte aus dem Laden.
„He“, rief ihm der alte Oleg hinterher, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Misha war inzwischen schon auf der anderen Straßenseite angekommen, stellte sich zur Deckung in einen Hauseingang und beobachtete den Laster. Der Fahrer, der wohl derjenige war, der die Flöte gekauft hatte, saß im Führerhaus und las in einer Zeitung. Wie sollte er bloß einem Mann, der die Flöte eben gekauft hatte klar machen, dass er sie wieder zurückhaben wollte? Als Misha noch darüber grübelte, ertönte plötzlich ein lautes Knattern, der Auspuff des Lastwagens stieß eine Rauchwolke aus und das gesamte Fahrzeug ruckelte hin und her. Der Fahrer hatte wohl vor loszufahren und damit raubte er Misha die Möglichkeit alles ganz genau zu überlegen, denn wenn er jetzt nicht schnell handelte, war seine Flöte für immer verloren, deshalb sprang er ohne lange nachzudenken aus dem Schatten des Hauseingangs und stand mit zwei großen Schritten an der Hinterseite des Lasters. Es war nicht schwer auf die Ladefläche zu klettern, denn der Lastwagen hatte hinten nur eine Plane, die noch nicht mal an der Seite befestigt war, sondern locker herunterhing. Misha hoffte nur, dass