Ferdinand Baum & Die Reise des Herrn Kleinmann. Martin E. Greil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin E. Greil
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742763594
Скачать книгу
wissen. Ein bunter Haufen von sechzig- bis neunzigjährigen. Besucher sollten sich nicht vom Interieure des Ulmers abschrecken lassen, fühlt man sich doch in die siebziger Jahre zurück versetzt. Nicht bunt und fröhlich, eher rustikal und in braun bis gelb gehalten, wurden hier die letzten dreissig Jahre keine Änderungen vorgenommen. Für Ferdinand eine Goldgrube, da die Alten aus verschiedensten Schichten der Gesellschaft zusammengewürfelt sind. Einige spielen Karten. Andere diskutieren jeden Tag über Politik sowie den Job, den sie einmal ausgeübt haben. Ferdinand ist der Galerist, der mit dem Mercedes 123c vorfährt, sein Croissant isst und einen Kaffee trinkt. Der 1979iger Mercedes Benz war damals das absolute Top-Auto jedes Firmenbesitzers sowie derjenigen, die es in der Gegend zu etwas gebracht haben. Industrielle, Banker, hohe Politiker fuhren einen W123. Jeder der Männer im Café Ulmer wollte damals in den siebziger und achtziger Jahren einen W123er sein Eigen nennen. Der Benz ist wie ein Büchsenöffner für den Anfang eines Gesprächs, da die meisten sehr gut über das Modell Bescheid wissen. Später lenkt Ferdinand die Unterhaltung geschickt auf ein Thema, das er ansprechen will, um an Informationen für sein Vorhaben zu kommen. Eines hatten die frühen Besucher alle gemeinsam: sehr gute Kontakte zu ihren alten Arbeitsstellen sowie Kindern, welche jetzt ihre Geschäfte leiten oder in der Politik in Österreich, der Schweiz oder Liechtenstein tätig sind. Heute beschließt Ferdinand, zwei Croissants mit auf den Weg zu nehmen. Er ist zu früh für die alten Herren im Ulmer angekommen. Kurz nach neun, gut eine Stunde bevor sich der Stammtisch füllt.

      Ein Croissant für Liselotte, Alma Maria Stevens Haushälterin, das zweite wird Ferdinand am späteren Nachmittag zu sich nehmen. Er liebt es, das Gebäck mit feinem Parmaschinken und einer Scheibe Bregenzer Wälder Käse zu belegen. Diesen Vorgang zelebriert er am liebsten alleine, ohne die kritischen Blicke von Liselotte oder anderen, die darüber ihre Nase rümpfen. Manche empfinden es als Beleidigung, ein gutes Croissant so ordinär zu behandeln. Für Ferdinand hingegen ist es seit einigen Jahren zu einem täglichen Ritual geworden, das ihm Struktur für den Tag gibt. 16 Uhr Croissant mit Schinken, Käse und einer Tasse Arabica Kaffee. Mit Liselotte verbrachte er unzählige Nachmittage damit, über die Notwendigkeit von fixen Tagespunkten zu diskutieren. Liselottes Meinung darüber ist weit entfernt von Ferdinands Einstellung zu diesem Thema. Als Haushälterin der fast nie anwesenden Besitzerin Alma Maria Stevens hatte sie keine Zeit, sich über Tagesstrukturen Gedanken zu machen. Die Villa von Zobel ist viel zu groß, als dass Möglichkeiten eines arbeitstechnischen Leerlaufes entstehen konnten.

      Villa von Zobel

      Die alte Villa, die John Stevens von Star Architekt August von Zobel im Jahr 1916 errichten ließ, braucht ständige Aufmerksamkeit. Vom Keller bis zum Dachboden im dritten Stock benötigt Liselotte zwei Tage, um nur die Räume vom lästigen Staub, der sich durch die alten Holzbalken und Teppichböden zu Hauf bildet, zu befreien. Das Herrenzimmer mit der Bibliothek in der untersten Etage in Schuss zu halten, ist für sie die größte Herausforderung. Über dreitausend Bücher sammelten sich im Zeitraum von hundertzwanzig Jahren an. Jedes Buch muss sorgfältig einzeln abgestaubt werden. Eine Sisyphusarbeit. John Stevens, Alma Marias Vater, konnte sich von keinem der Bücher trennen und ließ es sogar testamentarisch eintragen, dass die Erben verpflichtet sind, die Bibliothek zu behalten und den Bestand fortlaufend zu erweitern. Was seit dem Wechsel von Alma Maria Stevens Hauptwohnsitz auf die Fijis Ferdinand übertragen wurde.

      Die schmale Auffahrt zur Villa von Zobel ist gesäumt durch eine Allee von alten Lindenbäumen. Sie lassen Ferdinand kaum mehr wie eine Wagenbreite Platz, als er kurz vor zehn Uhr zum Haupteingang fährt. Gepflanzt wurden die Bäume noch auf Anordnung von Architekt August von Zobel, der in seinem Vorantreiben einer reduzierten Ästhetik das Wachsen der Bäume über die letzten hundert Jahre vergessen hatte. Die Bäume mit einem Durchmesser von über einem Meter verengten die Straße hoch zur Villa um einen Meter. Ein Versuch, die Bäume durch neue zu ersetzen, wurde von den Beamten der Stadt Bregenz jedoch abgelehnt. Die Villa sowie der gesamte Garten mit seinem Baumbestand sind seit den achtziger Jahren unter Denkmalschutz gestellt. Die Villa liegt im nördlichen Teil von Bregenz, auf einer Anhöhe, die von der ersten Etage freien Blick auf den Bodensee und den Nachbarstaat Deutschland ermöglicht. Vor der dreistöckigen Villa, welche in der Mitte einen winzigen Glockenturm besitzt, ist nur genug Platz für ein Auto. Alma Maria Stevens setzte es bei den Bregenzer Behörden durch, trotz Denkmalschutz eine geeignete Tiefgarage unter der Villa errichten zu lassen. Sie nutzte die Gelegenheit und ließ die Tiefgarage um einiges größer bauen als es genehmigt wurde. Ferdinand lässt sein »Auto des Tages« immer vor der Villa stehen, was meistens zu Konflikten mit Liselotte Gruber führt, die dann ihre Besorgungen durch die Tiefgarage und die steile Treppe in die Villa tragen muss. Wenigen Einwohnern von Bregenz ist bekannt, welch ein Juwel sich hinter den vielen Bäumen und Sträuchern praktisch mitten in der Stadt verbirgt. Ferdinand wiederum ist froh, dass dieser Umstand ihm eine gewisse Anonymität einbringt. Nur der Postbote und der Zeitungsausträger besuchen einmal am Tag den Postkasten beim massiven Einfahrtstor der Villa. Ferdinand sieht Liselotte an den Fenstern des Herrenzimmers im Untergeschoss. Da er sich erneut auf den kleinen Parkplatz vor der Villa stellt, würdigt Liselotte Ferdinand keines Blickes. Ein Croissant für die liebe Liselotte und die Situation wird sich neutralisieren, ist sich Ferdinand sicher, als er die Villa betritt.

      Ferdinand serviert Liselotte das mitgebrachte Croissant mit einer Tasse Kaffee, Butter sowie Marmelade auf einem Jugendstil Tablett mit dunklem Holzboden und verschnörkelter Silberumrandung. Neben der Kaffeetasse liegt eine Nelke, die er aus einem Blumenstrauß in der Küche entwendete und elegant als seine eigene Kreation auf dem Tablett platziert. Liselotte ignoriert ihn, als er das Herrenzimmer mit einem »Schönen guten Morgen, meine Liebste«, betritt. Erst als der Duft des frischen Kaffees Liselottes Geruchsnerven erreicht, lässt sie von ihrem Staubwedel am ersten der fünf Bücherregale ab.

      »Auch einen guten Morgen, der Herr. Schon früh raus heute?«

      »Ein Kunde, der nur morgens zu sprechen war. Überaus nervig so etwas. Aber was tut man nicht alles für Misses Stevens und ihre Galerie.« Liselotte setzt sich zu Ferdinand auf das schwarze Chesterfield Sofa. Sie ist sichtlich beglückt über das Bemühen Ferdinands, sie bei guter Laune zu halten. Die Nelke legt sie vorsichtig mit einem »Danke« neben das Tablett, wissend, dass die Blume aus ihrem Strauß in der Küche stammt. Ferdinand beobachtet Liselotte, wie sie graziös ihre Tasse zum Mund führt. Obwohl sie Ferdinand nie ihr richtiges Alter verraten hatte, vermutet er, dass sie trotz ihres jugendlichen Aussehens knapp über 60 Jahre alt sein könnte. Liselotte Gruber arbeitet schon über vierzig Jahre für Alma Maria Stevens. Sie stammt aus Schwarzenberg, einer kleinen oberösterreichischen Gemeinde an der Grenze zur Tschechischen Republik im Böhmerwald. Während ihrer Arbeitszeit in der Villa pflegt sie stets eine weisse Dienstmädchen-Schürze über ihrer in schwarz gehaltenen Kleidung zu tragen. Ihre Haare arrangiert sie zu einem traditionellen Zopf. Ihr war es schon immer wichtig, eine perfekte Frisur zu haben, auch während der Arbeit. Der in letzter Zeit leichte Blauton ihrer schwarzen Haare lässt vermuten, dass sich Liselotte in der Tönung vergriffen hat. Ferdinand wagte es einmal, sie darauf anzusprechen, woraufhin sie ihn für eine ganze Woche mit Schweigen strafte. Ihr innerösterreichischer Akzent drang nur ganz selten durch ihr perfektes Hochdeutsch. Vor allem, wenn Liselotte verärgert war, fiel sie in einen Sing Sang unverständlicher Flüche, welche teilweise auch in die tschechische Sprache, die sie als Zweitsprache beherrschte, abwanderten. Hinter ihrer Dienstmädchen-Schürze versteckt sich eine perfekte Haushälterin, die auch Alma Maria Stevens Buchhaltung in Schuss hält und ihre Güter während ihrer Abwesenheit verwaltet. Liselotte ist Alma Maria Stevens rechte Hand in allen Belangen während ihrer Abwesenheit. Vor allem hält sie die Hand über die Finanzen, was die Stiftung in Liechtenstein sowie die Galerie El-Mar in Bregenz, angeht.

      Die Stelle der Geschäftsleitung in der Galerie El-Mar wurde lokal im Bregenzer Gemeindeblatt ausgeschrieben. Interessierte konnten sich donnerstags direkt in der Galerie vorstellen. Es war Zufall, dass Ferdinand genau an jenem Donnerstag die Galerie besuchte, einige Tage, nachdem ihr alter Galerist, Herr Van der Zwarn, ein Holländer, im Alter von 92 Jahren bei einem Autounfall verunglückte. Ferdinand war drauf und dran, der Galerie einen Denifl, den er im Dachboden seines Elternhauses gefunden hatte, zu verkaufen. Dazu kam es zu Ferdinands Glück aber nicht. Der Denifl war am unteren Ende der Preislisten für lokale Maler. Mehr als hundert Euro hätte er wohl nicht