„Was geschah dann?“
„Als ich wieder zu mir kam, war ich an einen Stuhl gefesselt. Man hatte mir sämtliche Kleider ausgezogen, aber meine Augen verbunden, so daß ich nichts sehen konnte. Dann wurde ich ins Gesicht geschlagen. Womit, kann ich nicht sagen, jedenfalls derart, daß die Haut aufriß. Es war ungeheuer schmerzhaft und zerstörte offenbar mein ganzes Gesicht.“
Ihre Stimme versagte. Trotz ihrer Wut brach sie in Tränen aus.
Die beiden Kriminalbeamten sahen sich an. Wie schwer die Verletzungen waren und wie sehr das Gesicht der Frau entstellt war, konnte man wegen der Verbände nicht feststellen. Es war jedoch davon auszugehen, daß sie nicht übertrieb.
Huber wartete, bis sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte, bevor er seine nächste Frage stellte: „Was geschah dann?“
„Man löste die Fesseln und zerrte mich zu einer Wand, wo man mich aufrecht stehend mit nach oben ausgestreckten Armen an etwas festband. Dann wurde ich wieder geschlagen, diesmal aber am ganzen Körper. So wie zuvor , so daß die Haut überall aufplatzte. Es war entsetzlich. Ich wurde vor Schmerzen fast ohnmächtig.“
Wieder brach sie in Tränen aus. Trotzdem berichtete sie weiter.
„Schließlich band man mich los. Aber ich war vor lauter Schmerzen nicht in der Lage, mich zu wehren oder irgendetwas zu tun. Man zerrte mich weg und stieß mich in ein Auto. Einen Lieferwagen oder sowas. Jedenfalls kam ich auf einer harten, metallenen Fläche zu liegen. Als ich in das Auto hineingestoßen wurde, wurde ich endgültig ohnmächtig. Was dann geschah, weiß ich nicht. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer Trage und befand mich im Krankenhaus.“
Obermeyer machte sich eifrig Notizen. Huber nickte.
„Sie haben also den oder die Täter nicht erkannt?“
Die Schauspielerin schüttelte den Kopf.
„Auch nicht an der Stimme?“
Erneutes Kopfschütteln. „Es wurde die ganze Zeit hindurch kein Wort gesprochen.“
„Haben Sie einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?“
Angelika von Weerendonks Gesicht wurde hart. „Oh ja, den habe ich. Es kann nur dieser widerliche Kerl gewesen sein, der meine Tochter verführt hat und der letztendlich Schuld daran ist, daß sie nicht mehr lebt.“
Obermeyer fuhr von seinen Notizen hoch. „Er hat sie ermordet?“
„Sozusagen. Er hat sie soweit getrieben, daß sie sich das Leben genommen hat.“
„Wann war das?“
„In der vergangenen Woche. Sie sollte zu ihrem Vater nach Hongkong übersiedeln, weil ich mit ihr hier nicht mehr fertig wurde. Am Tag ihrer Abreise ist sie ihren Begleitern entwischt und hat sich umgebracht.“
„Mein aufrichtiges Beileid“, murmelte Huber und machte die Andeutung einer Verbeugung. Dann sah er seinen Kollegen an. Obermeyer nickte.
„Ich glaub, das wär’s für’s erste. Wir werden Ihrem Hinweis nachgehen. Vielen Dank, daß Sie uns zur Verfügung gestanden haben. Wir werden uns sicher noch einmal melden, sobald es Ihnen etwas besser geht.“
Sobald die beiden Beamten auf dem Gang standen und die Tür zu Angelika von Weerendonks Krankenzimmer hinter sich geschlossen hatten, fragte Huber: „Was hältst Du von der Geschichte?“
Obermeyer hob die Schultern. „So wie sie aussieht, klingt das glaubwürdig. Jedenfalls was die Entführung und die Mißhandlung angeht. Und ihr Verdacht bezüglich des Täters, das wird sich überprüfen lassen.“
„Na, dann mal los.“
***
Noch am selben Tag suchten Beamte der Kieler Kriminalpolizei, die von ihren Münchener Kollegen um Hilfe gebeten worden waren, Martin Schöllers Eltern auf. Auf deren Aussage hin, daß sich ihr Sohn zur Zeit in der psychiatrischen Klink in Bremen aufhalte, da er zusammengebrochen war, nachdem man ihm die Nachricht von Franziskas Tod überbracht hatte, wandten sich die Beamten an die Kollegen aus Bremen, die die Aussage der Eltern bestätigten. Ja, Martin Schöller halte sich seit etwa einer Woche im Krankenhaus auf. Er stehe unter ständiger Beobachtung und habe die Klinik seit seiner Einlieferung nicht verlassen.
Von ihren Kollegen erfuhren die Kieler, daß es eine Untersuchung des Todes von Franziska von Weerendonk gegeben habe. Es sei eindeutig von einem Suizid des Mädchens auszugehen. Fremdeinwirkung könne mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Die Staatsanwaltschaft in Kiel habe die Ermittlungen aufgrund des Obduktionsberichtes eingestellt.
Unverzüglich informierten die Kieler Beamten ihre Kollegen in München vom Ergebnis ihrer Untersuchungen. Martin Schöller käme als Täter nicht in Frage.
Kriminalhauptkommissar Georg Huber klappte den Deckel der Ermittlungsakte zu und sah seinen Kollegen, Kommissar Markus Obermeyer, der am Schreibtisch gegenüber saß und das Telephongespräch aufmerksam verfolgt hatte, nachdenklich an.
„Warum erzählt die Frau uns so eine haarsträubende Geschichte?“
„Das kann ich Dir sagen“, antwortete Obermeyer. „Während die Kollegen in Kiel und Bremen aktiv waren, habe ich mich mal ein bißchen umgehört. Unsere Schauspielerin scheint ein ziemliches Früchtchen zu sein. Sie hat schon einmal versucht, den Jungen ins Gefängnis zu bringen. Fast wäre es ihr auch gelungen. Sie hat ihn angezeigt, weil er angeblich ihre Tochter vergewaltigt hätte. Aber der Junge hat Glück gehabt. Er hatte einen guten Anwalt, der nachweisen konnte, daß an diesen Anschuldigungen nichts dran war. Die Beiden hatten zwar Sex miteinander, aber das Mädchen hat vor Gericht klipp und klar erklärt, zu jeder Zeit damit einverstanden gewesen zu sein. Von Vergewaltigung könne überhaupt keine Rede sein, hat sie ausgesagt. Das Gegenteil sei der Fall. Der Richter hat Schöller daraufhin freigesprochen.
Die Mutter des Mädchens muß nach der Urteilsverkündung getobt haben wie eine Wilde. Sie war damals ein echter Star. Es gab einen riesigen Aufstand in der Presse, der sich für sie zu einem Skandal ausweitete. Daraufhin war’s mit dem großen Star erstmal vorbei. Ein ganzes Jahr lang hat man von ihr nichts mehr gehört und gesehen. Dann bekam sie wieder erste, kleine Rollen. Im “Tatort“ oder so. Wo ich sie auch mal gesehen habe. Aber so hoch oben wie früher ist sie längst nicht mehr. Und so wie’s aussieht, wird sie da auch nicht wieder hinkommen.“ Er kicherte leise. „Es sei denn, man sucht für einen Film die Zwillingsschwester des Glöckners von Notre Dame, oder sowas?“
Huber zog die Stirn in Falten. „Jetzt werd mal nicht geschmacklos.“
Obermeyer hob entschuldigend die Hände. „Ich sag nur, was ich sehe.“
Huber winkte ab. „Ja, ja, ist ja schon gut. Jedenfalls, das wünscht man keinem. Nicht was sie durchgemacht haben muß, und das Ergebnis schon gar nicht. Die ist ruiniert für ihr ganzes Leben.“
„Zumal sie ja auch noch den Mord an ihrem Liebhaber verkraften muß“, ergänzte Obermeyer und tippte auf eine Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
Huber sah ihn fragend an.
„Ja“, erklärte Obermeyer. „Ich weiß nicht, ob Du das mitgekriegt hat. Der Tote, den man im Hafen von Hongkong gefunden hat, ein Doktor Kern, ziemlich zwielichtige Gestalt, übrigens, das war ihr Kerl.“
„Nee, weiß ich nix von. Ob da irgendein Zusammenhang besteht?“
„Keine Ahnung, glaub ich aber kaum. Den hat irgendjemand bestialisch abgeschlachtet. Das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Gliedmaßen abgeschnitten, Augen ausgestochen, Ohren abgesäbelt. Und alles, als er noch gelebt hat. Zum Schluß haben sie ihn dann der Länge nach aufgeschlitzt. Unglaublich sowas. Aber ich glaube kaum, daß irgendjemand von hier was damit zu tun hat. Wahrscheinlich ist er irgendeinem Chinesen mal auf die Füße getreten. Die vom Morddezernat meinen das auch. Hat ja auch reichlich im Trüben gefischt, der Guteste. Auf jeden Fall war die von Weerendonk mit ihm liiert.