Selbst wenn sie gewollt hätten, Beifalls- oder Mißfallenskundgebungen konnte niemand auf dem kleinen Boot dazu abgeben. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, sich an den Leinen festzuhalten aus Angst, über Bord gespült zu werden. Natürlich ging alles gut, und hinterher hatten sie alle wieder was zu reden. Über den neuen Kapitän, der sich gelegentlich aufführte wie ein wildgewordener Teenager.
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Am Ende der Reise, nachdem er sie pünktlich, wie angekündigt, im Hafen von Papeete an Land gesetzt hatte, hatten sie den jungen Mann schätzen gelernt. Das bekamen auch die Damen und Herren in der Reederei in Hamburg zu hören, wo zahlreiche und meist positive Nachrichten eingingen.
Auch Martin hatte seine Sachen bereits gepackt, denn er erwartete, daß die angestammte Besatzung nach dem Ende dieser Reise das Schiff wieder übernehmen würde und er seinen unterbrochenen Urlaub fortsetzen konnte, um danach seinen Dienst als erster Offizier auf dem Containerschiff “Essen-Express“ wieder aufzunehmen. Aber es sollte anders kommen.
Am Abend der Ankunft in Papeete erreichte ihn eine Nachricht aus Hamburg, in der er darum gebeten wurde, das Schiff auch während der nächsten Reise weiterzuführen. Offensichtlich waren die erkrankten Offiziere der “Hanseatic“ noch nicht wieder so weit hergestellt, daß sie ihren Dienst wieder antreten konnten. Martin wunderte sich ein wenig darüber, daß eine simple Fischvergiftung so lange brauchte, bis sie auskuriert war. Aber mit tiefergehenden Überlegungen hielt er sich gar nicht lange auf, sondern machte sich umgehend daran, seine Sachen wieder auszupacken.
„Auf ein Neues, also“, sagte er sich. „Die in Hamburg müssen total verrückt sein, mich hier weiterfahren zu lassen. Als ob’s in der ganzen, großen Reederei nicht einen gestandeneren Mann gäbe, der auf dem Posten wesentlich besser aufgehoben wäre.“
Natürlich gab es solche Leute. Aber die Manager der Reederei hatten ihre guten Gründe, niemanden aus dieser Gruppe zu benennen. Es sollte eben Martin Schöller sein, neunundzwanzig Jahre alt und eines der größten Talente, die sie je in ihren Reihen gehabt hatten.
2. Martin
Wie war Martin Schöller überhaupt so weit gekommen?
Zur See fahren wollte er schon immer. Allemal, nachdem ihn sein Onkel zum ersten Mal mit auf sein Segelboot genommen hatte. Damals war er noch ein kleiner Junge gewesen. Dann wurde er größer, und als Teenager durfte er sogar gelegentlich alleine mit dem Boot hinaussegeln. Sobald er alt genug war, legte er die entsprechenden Prüfungen ab und fuhr über die Ostsee, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot.
Sein Onkel hatte volles Vertrauen zu ihm, denn schon früh erwies Martin sich als ein sehr verantwortungsbewußter Junge, der die Situation zu jeder Zeit richtig einzuschätzen wußte und nie leichtsinnig war.
Martins Leben war aufregend und geordnet, abenteuerlich und behütet, meistenteils gewöhnlich, aber ein wenig außergewöhnlich doch, von Zeit zu Zeit. Er wurde geliebt von seinen Eltern, gemocht von seinen Kameraden, und doch schickte man ihn weit weg, ins Internat, weil sich dort Chancen boten, die sich ihm zuhause nicht eröffneten.
So zog er fort. Nicht gerne, aber doch in der Einsicht, die Gelegenheit, die sich ihm bot, zu nutzen. Er war ein eifriger Schüler, der gute Leistungen brachte, aber doch ständig heimwehkrank. Am Anfang stärker, aber das legte sich, als er ein wenig älter wurde. Dennoch fieberte er in all den Jahren dem Tag entgegen, an dem es Ferien gab und er nach Hause fahren konnte.
Bis zu dem Tag, an dem sich alles änderte. Als ein kleines Mädchen ihn bat, von ihm mitgenommen zu werden, auch nach Hause, auch in die Ferien. Wobei, so klein war sie eigentlich gar nicht. Vierzehn und ein richtiger Teenager. Ein wenig keß, aber ziemlich unglücklich. Im Grunde genommen hatte er wenig Wert auf ihre Gesellschaft gelegt, aber je länger die Fahrt vom Internat in Klagenfurt nach Deutschland und dann hinauf in den Norden dauerte, desto mehr hatte er seine Meinung geändert. Er fing an, sie zu mögen. So sehr, daß ihm der Abschied von ihr sogar ein wenig schwerfiel, als er sie zu Hause absetzte.
Aber dann überwog die Vorfreude auf seinen geplanten Segelurlaub. Er ganz allein, mit der prächtigen Segelyacht seines Onkels. Von Neustadt in Holstein hinaus auf die Ostsee, nach Dänemark oder wohin der Wind ihn auch treiben mochte. Ihn und das Boot und mit ihnen Ludwig van Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart, Antonio Vivaldi und Johann Sebastian Bach mit ihrer Musik, die er so sehr liebte. Oder auch Glenn Miller, Duke Ellington und Frank Sinatra. Dann verwandelte er das Deck der “Blue Star“, der Segelyacht seines Onkels in einen Konzertsaal oder auch in eine Showbühne, je nachdem in welcher Stimmung er gerade war. Dann ließ er sich über die Wellen tragen, war “In the Mood“, hörte “The Summerwind“ in den Segeln rauschen, oftmals mit Tränen in den Augen, wenn in einer sternklaren Nacht das “Große Hallelujah“ erklang aus Händels “Messias“ oder er versunken war in Beethovens “Pastorale“ beim Ansteuern des nächsten Hafens: “Frohe Gedanken bei der Ankunft auf dem Lande“. Lachen mußte er jedesmal, wenn er eines seiner Lieblingsstücke anhörte, Beethovens „Mondscheinsonate“, derentwegen er einmal einen argen Rüffel seines Klavierlehrers kassiert hatte, als er das Klavierstück mit diesem Namen bezeichnete.
„Mondscheinsonate!“ hatte der alte Mann mit grimmigem Gesicht und Groll in der Stimme verächtlich gesagt. „Sonate, Opus siebenundzwanzig, Nummer Zwei in cis-Moll heißt das Werk. Mondscheinsonate! Du bist wohl zu arg vom Mond beschienen worden, scheint mir.“
Er würde das Opus siebenundzwanzig, Nummer Zwei in cis-Moll nie mehr vergessen. Sein Leben lang nicht!
An diesem Tag stand ihm der Sinn mehr nach Joseph Haydns “Schöpfung“, von der er eine alte Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan aufgetrieben hatte. Aber dann stand plötzlich eine ganz andere “Schöpfung“ vor ihm, keineswegs alt, sondern erst vierzehn Jahre, mit endlos langen Beinen, ebensolchen Haaren, bis zum Po, braunen Rehaugen und sehr verschüchtert. Seine Mitfahrerin aus dem Internat. Ob er sie wohl mitnehmen könne auf seinem Segeltörn.
Er konnte, und er wollte. Und während sie gemeinsam über die Ostsee durch den Sommer segelten, entspann sich eine tiefe und innige Liebe zwischen ihnen, dem “Großen Kapitän“ und der “Kleinen Krabbe“, eine Liebe, so unrealistisch wie aus einem Kitschroman und doch so schön und so wirklich, daß man es kaum zu beschreiben vermocht hätte.
***
Daran dachte Martin jetzt, als er gegen drei Uhr in einer tropenheißen Südseenacht achtern auf dem Explorer Deck seiner “Hanseatic“ saß, ein Glas Wein neben sich und die Pfeife im Mund, die er sich nur gönnte, wenn er wußte, daß er ganz allein war. So hatte er auch seine Kapitänsuniform getauscht gegen Jeans und T-Shirt und nur die unvermeidliche Kapitänsmütze aufbehalten. Er saß in einem der bequemen Liegestühle, die tagsüber den Passagieren vorbehalten waren, sah achteraus in die schäumende Hecksee und hatte feuchte Augen bei dem Gedanken an diesen ersten Segeltörn mit seiner geliebten Franziska, der vierzehnjährigen Tochter der großen Schauspielerin Angelika von Weerendonk, seiner “Kleinen Krabbe“, die so gar nicht sein wollte wie ihre berühmte Mutter, sondern nur ein quirliger Teenager, der geliebt wurde und der zurücklieben durfte.
Martin hatte sie geliebt und sie ihn ebenso sehr, trotz aller Widrigkeiten, die ihre Mutter ihnen bereitete, sobald sie von dieser Verbindung erfuhr. Der armselige Habenichts mit der schwer reichen Tochter eines Filmstars. Aber sie hatten sich nicht aufhalten lassen. Ihre Liebe hatte diese Prüfungen überstanden. Alle, bis auf die letzte. An der war seine “Kleine Krabbe“ verzweifelt. So sehr, daß ihr alles Weitere sinnlos erschien. Also war sie gegangen. Unerreichbar weit weg, für immer und für alle.
Tränen liefen über Martins Gesicht, als er daran dachte. An den