Wohin mein Weg dich führt. Patrick Osborn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Patrick Osborn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738009118
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zu finden, da zu dieser Uhrzeit noch nicht viele Leute unterwegs gewesen waren.

      In den folgenden Wochen beherrschte Lilys Verschwinden die Medien, ohne dass es einen brauchbaren Hinweis gegeben hat. Hinzu kam, dass das Fehlen jeglicher Lösegeldforderungen den Verdacht erhärtete, dass das Mädchen einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Immer wieder wurden Suchaktionen gestartet, doch ohne Erfolg.

      Lily blieb verschwunden.

      Bens Leben war an diesem Tag aus den Fugen geraten. Lilys Verschwinden löste ein Gefühlschaos in ihm aus. Der Schmerz und die aufkommenden Schuldgefühle fraßen ihn auf. Er kapselte sich von den Menschen ab, die ihn liebten. Vor allem Shannon war die Leidtragende. Sie musste nicht nur das Verschwinden ihrer Tochter verkraften, sondern auch die Abkehr ihres Mannes.

      Dabei ließ Ben nichts unversucht. Er beauftragte Privatdetektive und übte immer wieder Druck auf die polizeilichen Ermittlungen aus.

      Ohne Erfolg.

      Dann hatte er sich selbst auf die Suche gemacht. Eine Zeit, die nicht nur ihre Ersparnisse auffraß, sondern auch eine Belastungsprobe für ihre Ehe wurde. Auch wenn es schmerzte, begann sich Shannon damit abzufinden, dass sie ihre geliebte Tochter nicht wiedersehen sollte. Und genau das konnte und wollte Ben nicht akzeptieren. Er trank in dieser Zeit mehr als gut für ihn war und immer öfter gab es Streit. Schließlich war eines Tages der Zeitpunkt erreicht und Shannon packte ihre Koffer. Zu sehr hatte er selbst mit dem Verlust von Lily zu kämpfen, den er einfach nicht hinnehmen konnte. Liem war in dieser Zeit der Einzige gewesen, der ihn verstand, der sich zumindest die Mühe machte, ihn verstehen zu wollen. Auch wenn er Ben mehr als einmal deutlich gemacht hatte, dass er endlich anfangen müsse, sein Leben auf die Reihe zu bekommen.

      Das Klingeln an der Wohnungstür riss Ben aus seinen Gedanken. Er fragte sich, wer wusste, dass er wieder zuhause war. Er öffnete die Tür und Liem stieß ihn unsanft zur Seite.

      „Verdammt, Ben. Wo hast du gesteckt? Ich habe wie ein Trottel am Flughafen auf dich gewartet.“

      „Hallo Liem. Was ...“ Plötzlich fiel Ben die SMS ein, die er kurz vor seinem Abflug in Bangkok erhalten hatte. „Tut mir leid. Deine Nachricht ... Ich habe sie ganz vergessen.“

      „Das hab´ ich gemerkt, Bruderherz! Komm, lass dich drücken.“ Ben genoss die Umarmung seines Adoptivbruders. Für einen kurzen Moment dachte Ben an ihr erstes Treffen, damals in den Straßen von Bangkok. Kaum zu glauben, was seitdem alles passiert war.

      „Und?“, wollte Liem wissen. „Geht es dir besser?“ Ben wusste nicht genau, worauf die Frage zielte. Kurz nach dem Überfall auf den Mönch, hatte er seinen Bruder informiert, dass er länger als geplant in Bangkok bleiben würde.

      „Wenn du den Überfall meinst, ist alles wieder okay.“ Ben deutete auf seine Rippen. „Aber mit Sport muss ich mich wohl zurückhalten.“

      „Und sonst? Konntest du endlich mit allem abschließen?“ Ben spürte, wie es in seinem Innersten rumorte. Wie die Frage schon klang. Als sollte er eine unliebsame Akte zur Seite schieben.

      „Hör zu Liem!“, Ben wollte sich nicht schon wieder mit seinem Bruder streiten. „Ich bin ziemlich erledigt. Der lange Flug, die Zeitumstellung. Können wir morgen reden?“

      „Du weichst mir aus, Ben! Schon wieder. Du musst dich endlich davon frei machen. Wie lange willst du Lily noch nachtrauern? Merkst du nicht, wie du dich kaputt machst? Deine Tochter hätte das sicher nicht gewollt.“

      „Red´ nicht so, als ob Lily tot wäre!“

      „Aber sie ist es mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit!“ Einen Moment herrschte Stille. „Ben“, Liems Stimme wurde sanfter, „Lily ist seit zehn Jahren verschwunden. Niemand hat auch nur eine Spur von ihr gefunden. Es wird Zeit, das du der Realität ins Auge siehst.“ Liem wandte sich zur Tür. „Lass uns morgen beim Mittagessen darüber reden. Einverstanden?“ Ben nickte. „Wie immer um zwölf im Borchardt?“ Ben nickte abermals. Ohne ein weiteres Wort verließ Liem die Wohnung und Ben vernahm, wie die Tür ins Schloss fiel.

      Eine unerträgliche Leere breitete sich in ihm aus. Er raffte sich auf und packte sein Gepäck aus. So kam er hoffentlich auf andere Gedanken. Dabei fiel ihm der Beutel in die Hände, den er von dem Mönch erhalten hatte. Ben löste den Knoten und blickte auf drei kleinen Ampullen, die eine gelbliche Flüssigkeit enthielten. Auf seine Frage hin, was diese mit seiner Tochter zu tun hatten, hatte sich der Mönch in Schweigen gehüllt. Er antwortete lediglich, dass Ben dies schon erkennen würde, wenn die Zeit dafür gekommen sei. Damit war für ihn das Thema erledigt. Ben hatte entgegnet, dass er an irgendwelchen Hokuspokus nicht glauben würde und den Beutel zurückgegeben. Umso überraschter war er gewesen, als er die Ampullen später in seinem Gepäck entdeckt hatte. Anfangs wollte er sie im Hotel lassen, aber eine innere Stimme riet Ben dazu, sie in seinen Koffer zu packen.

      Vorsichtig nahm er eine Ampulle heraus und öffnete sie. Die Flüssigkeit war vollkommen geruchsfrei. Wieder kamen Ben die Worte des Mönchs in den Sinn: „Was ist Ihr größter Wunsch?“

      Lily.

      Ohne nachzudenken, stürzte Ben die Flüssigkeit hinunter. Was hatte er schon zu verlieren? Der Geschmack war angenehm. Ben glaubte, eine leichte Spur von Vanille zu erkennen. Er erwartete, dass sich das Zimmer drehen, die Wände verschieben oder farbenprächtige Halluzinationen auf ihn einstürzen würden. Aber nichts passierte. Nicht einmal ein Kribbeln in der Magengegend erinnerte ihn daran, dass er soeben eine Flüssigkeit zu sich genommen hatte, von der er nicht wusste, woraus sie bestand und vor allem, welche Wirkung sie hatte.

      Enttäuscht packte Ben seinen Koffer weiter aus. Zehn Minuten später legte er sich aufs Bett. Der Jetlag überkam ihn und nur einen Lidschlag später war Ben in einen tiefen Schlaf gefallen.

       Kapitel 2: Der Wanderer

       Berlin, 26.Dezember 2004

      „Ich bin soweit!“ Ben hörte die Stimme seiner Tochter und trat in den Flur, wo Lily ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trampelte. „Kann ich jetzt endlich gehen?“

      „Und du willst nicht warten, bis Oma und Opa nachher kommen?“ Ben registrierte den Blick seiner Tochter, denn sie immer aufsetzte, wenn sie ihren Papa um den Finger wickeln wollte. Ein Blick, der auch diesmal seine Wirkung nicht verfehlte, denn nur zehn Sekunden später schloss Ben hinter ihr die Haustür. Er sah, wie Lily das Grundstück verließ und die Straße überquerte.

      Sie hatte ein Bild für ihre Großeltern gemalt, das sie ihnen unbedingt geben wollte.

      Ben stieg die Treppe zum Badezimmer hoch. Shannon stellte gerade die Dusche aus. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat ein. Warmer Dampf umfing ihn.

      „Du kommst ja wie gerufen.“ Shannon wickelte ein Handtuch um ihren Kopf. „Trocknest du mir den Rücken ab?“ Ben trat näher, nahm das Handtuch entgegen und fuhr seiner Frau sanft über den Rücken. „Ist Lily jetzt doch gegangen?“ Shannon drehte sich um und sah Ben in die Augen.

      „Gerade eben. Du kennst doch deine Tochter.“

      „Na dann ...“ Shannon schlang ihre Arme um Bens Hals, beugte sich vor und küsste ihn sanft. Stürmisch erwiderte er den Kuss, hob seine Frau hoch und trug sie ins Schlafzimmer.

      Zwanzig Minuten später lagen sie erschöpft auf dem Bett. Das Telefon klingelte und gedankenversunken griff Ben nach dem Hörer.

      „Ja?“

      „Hallo Ben, ich bin´s, Jeffery.“ Ben erkannte die Stimme seines Schwiegervaters, der, obwohl schon seit einigen Jahren pensioniert, den Militärton nicht ablegen konnte. „Ich wollte nur wissen, wann wir nachher bei euch sein sollen.“

      „So gegen eins. Ihr könnt zusammen mit Lily kommen.“

      „Wieso mit Lily?“ Schlagartig saß Ben im Bett. „Ist sie nicht bei euch? Sie hat sich“, Ben schaute auf seine Uhr, „vor zwanzig Minuten auf den Weg gemacht.“

      „Nein,