Es kam nicht dazu. Ich saß auf dem Sofa, Jacke und Tasche lagen neben mir und starrte in die Luft. Es war ruhig, weder Fernseher noch Radio waren eingeschaltet. Ich wollte bereit sein, wenn er kam und brauchte diese Ruhe für mich, die nun aber langsam unerträglich wurde. Nach 40 Minuten fing ich an, minütlich bei Kai anzurufen. Doch das einzige, was ich vernahm, war sein Anrufbeantworter. Ich wurde unruhig. Hatte er einen Unfall und lag mutterseelenallein ohnmächtig auf der Straße oder wurde er überfallen? So richtig war ich nicht davon überzeugt, denn meine innere Stimme verriet mir schon, dass seine Beschäftigung (Auto, Freunde, was auch immer, ich wusste es nicht genau) wichtiger war und Kai unsere Verabredung vor sich her schob. Ich ging zum Fenster und verharrte dort fast eine Stunde lang in der Hoffnung, dass er jeden Augenblick um die Ecke fuhr. Nach einer Stunde überlegte ich nicht mehr, ich war zutiefst enttäuscht und verletzt. Gedankenlos ging ich ins Bett.
Ich erinnerte mich, dass ich vier Stunden nach dem letzten Anruf hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Ich streifte die Uhr mit einem Blick und stellte mich schlafend. Ich wollte ihn nicht sehen und nicht mit ihm reden, selbst der Grund für sein Zuspätkommen war mir in dem Moment gleichgültig. Ich war ausgelaugt und traurig. Zehn Minuten später ließ er sich wortlos ins Bett fallen.
Ich fühlte mich in meiner Betrachtungsweise erheblich gestört. Gähnend reckte ich mich nach allen Seiten und stellte mich immer noch schlaftrunken unter die Dusche. Vorsorglich probte ich dann beim Zähneputzen einen über alles erhabenen Gesichtsausdruck, um meinem Mitbewohner dann geübt locker gegenüber zu sitzen. Es misslang mir ein wenig, denn mit übergroßen Klammern im Haar und Zahnpasta im Gesicht, dazu noch meine verquollenen Augen, fand ich mich alles andere als cool dreinblickend. Aber wie sagte doch mein Ex-Freund Lucas immer zu mir „Schließlich kann man nicht jedem Menschen morgens mit Fug und Recht sagen, dass man ihn süß und liebenswert findet“. Danke, Lucas, das tröstet mich ungemein.
Richtig ansprechbar wurde ich erst nach einer Tasse Kaffee. Ich konnte ihm also koffeingestärkt gegenübertreten. Ich schaute auf die Uhr, ja, es war seine Zeit. Ich hörte meinen Mitbewohner aus dem Schlafgemach tastend mit frischer Unterhose in der Hand ins Badezimmer schlürfen. Grußlos versteht sich! Halbstündige Sitzung auf dem Klo gehörten zu seinem täglichen Morgenritual. Frisch gewaschen und mit gekämmten Haaren saß der Gute mir nun gegenüber. In dem Augenblick fiel mir ein, dass ich weder geschminkt noch frisiert war. Ich hastete ins Badezimmer, um nach 15 Minuten mit wallenden Haaren und kussbedürftig geschminkten Lippen zu erscheinen. Er würdigte mich keines Blickes und war schon auf dem Weg zur Tür. Ein „Tschüss Puppe“ nahm ich leise wahr. In dem Moment war ich direkt dankbar, dass er sich überhaupt in irgendeiner Weise von mir verabschiedet hatte.
6. Kapitel
Es war kalt und dunkel draußen. Noch war ich alleine an diesem Freitag Abend und machte mir vorsorglich meine Gedanken, wie ich Kai wohl begrüßen würde. Er würde freilich mit zerknirschtem Gesicht auf der Stirn geschrieben „hier ist schlechtes Gewissen drin“ auf mich zukommen, mich beherzt an seine männliche Brust ziehen und mir sachte ins Ohr flüstern, wie sehr ich ihm gefehlt habe. Sich für die vielen Verspätungen entschuldigend einen Plan entwerfen, wie wir doch das vor uns freie Wochenende genüsslich gestalten könnten.
Meine Gedankengänge wippten aufgeregt hin und her. Das wäre doch mal was anderes, einfach himmlisch. Trotz meiner innerlichen Aufregung, die sich für ein paar Sekunden bemerkbar machte, saß ich gelangweilt auf meiner Couch, wohl mit dem richtigen Riecher, dass mein im Bett doch so leidenschaftlicher Liebhaber die Leidenschaft wohl nur dort genoss. In jeglicher Hinsicht auf den Alltag bezogen, bezog Kai sich streng auf Realität und Geldverdienen. Sonstiges Geschmuse und Abgeknutsche nur mal so zwischendurch war reine Zeitverschwendung und doch völlig unnütz. Die Wäsche- und Aufräumfrau an seiner Seite wusste doch schließlich, dass ihr Lebemann sie vollends liebte. Reichte doch, man musste es ja nicht auch noch zeigen; es wäre bei so viel Nebenarbeit doch auch ein bisschen viel verlangt gewesen! Doch bei der Aufräumfrau zeigten sich mittlerweile kleine Unzufriedenheiten im Kopf. Die kleinen Männchen, welche sich im Verstandesteil des Kopfes befinden, hämmerten mit ihren Fäusten gegen die Stirn, mit dem Protestgeschrei „Jetzt ist Schluss! Du hast keine Zukunftsperspektive mit diesem Mann! Er ist ein Egoist, der nicht an seine liebende Frau denkt!“ Wie recht doch dieser Teil meines Gehirns hatte, aber er schien nicht sehr ausgeprägt zu sein, sonst würde ich ja wohl kaum noch in einer Wohnung mit ihm leben. Selbstzweifel kamen auf. Ich machte mir ernsthafte Gedanken um meinen Verstand. Wo ich doch immer annahm, ich sei ein intelligentes Wesen, scheiterte ich in meinem Handeln, eine harmonische Beziehung in die Tat umzusetzen. Einer allein kann nicht viel ausrichten, damit die Liebe funktioniert. Ich war mit meinem Kopf schon auf dem richtigen Weg, nur mein Herz hörte nicht zu. Denn jetzt meldete sich auch noch der andere Teil meines Gehirns, sprich: Gefühlsteil! Dass es so was Lästiges geben musste! Für diesen Moment jedenfalls. Was sagte er? „Dieser Lebemann hat doch was drauf im erotischen Bereich. Er macht dich zufrieden im Bett, wenn er mit seinen übergroßen Händen deinen Körper packt. Er packt zwar nicht alles, was meinen Körper betrifft, aber das Wichtigste hat er doch vollends und ausgiebig im Griff. Dann diese Küsse! Keiner küsst so wie er - nehme ich jedenfalls an.“ Nach 30 Minuten des hochbefriedigenden Aktes – ich war dabei immer ein bisschen unsicher, weil ich nicht wusste, was dieser im Bett so erfahrene Mann denn noch von mir erwarten könnte – lag ich mit bebender Brust nach Luft röchelnd verkehrt herum im Bett. Der liebesgewandte Mann neben mir konnte sich nun seinem gut verdienten Schlaf hingeben. Nun musste ja nicht mehr geküsst, geschweige denn umarmt werden. „Haben wir doch gerade getan, nu muss mal gut sein. Nacht, Puppe!“ Ich hingegen nach Aufmerksamkeit heischend kroch an seine Brust, bis ich mir nach 30 Sekunden – ohne angefasst zu werden – lächerlich vorkam, dann in der Dunkelheit mein Nachtgewand suchte und ins Badezimmer verschwand. Gefühlsbereich beendet! Verstandesbereich winkte begrüßend mit den Händchen. „Das war echt alles! Keine Gefühlsduseleien im Ohr? Kein Rückenkraulen? Was gäbe ich nicht alles fürs Rückenkraulen! Utopische Handhabungen werden nach dem Liebesspiel gestrichen. Basta!“
Kommen wir zum tatsächlichen Geschehen der Rückkehr meines Mitbewohners ins traute Heim. Es unterschied sich nur unwesentlich von meinen Vorstellungen.
Mit einer Selbstverständlichkeit betrat er das Wohnzimmer und unterbrach meine Lieblingssendung. Er sprach über seine Tageserlebnisse, berichtete detailgetreu von der stressigen Autofahrt, aber eine verzeihungsheischende Geste konnte ich um Himmelswillen nicht erkennen. So langsam entfaltete sich nach meiner toleranten Geduldsphase nun doch die Wut im Bauch, zu groß war meine Enttäuschung. Ich fragte gefasst höflich nach, ob er sich nicht einmal für seinen um vier Stunden verspäteten Abend entschuldigen würde. Er lachte mich aus und erwiderte nur, ich solle mich nicht so haben, er hätte es halt zeitlich nicht geschafft, wäre doch kein Drama. Damit war für ihn die Sache erledigt. Für mich nicht, aber ich wusste aus Erfahrung, dass es absolut keinen Sinn hatte, auf diesem Thema herumzureiten. Mein temperamentloser und emotionsarmer Mitbewohner hatte keinen Sinn für solche Gespräche, die eventuell auch ein paar Missverständnisse beiseite geschafft hätten. Also hielt ich meinen Mund und ärgerte mich dafür allein in meinen Gedanken.
Kurz vor dem Einschlafen dachte ich über mein künftiges Handeln nach. Angst schlich sich in meine Gedanken. Angst, dass ich