„Schnepfe.“
„Blödmann.“
„So eine Zicke ist mir schon lange nicht mehr untergekommen“, schimpfte er.
„Ich komm Ihnen auch garantiert nicht mehr unter“, schnappte ich zurück und wollte forsch davonstiefeln, aber ich hatte nicht an meine Entenschuhe gedacht und kam nicht recht von der Stelle. Er packte mich hart am Oberarm und riss mich zurück, ich stolperte prompt und fiel gegen ihn, kam aber nicht mehr dazu, zu zetern oder mich zu entschuldigen, weil er mich küsste.
Ziemlich grob. Und aufdringlich! Wer hatte ihm denn gestattet, mir derartig die Zunge in den Hals zu rammen? Ich zappelte, so weit das in seinem eisernen Griff möglich war, aber ich musste leider zugeben, dass er küssen konnte. Sehr gut sogar. So gut, dass ich ihn unwillkürlich zurückküsste, bis ich merkte, was ich da tat, und sofort aufhörte.
Er hörte aber nicht auf, und so musste ich leider zu etwas drastischeren Mitteln greifen. Aber nur ganz leicht, ich schwöre es. Ziemlich leicht wenigstens. Nur ein kleiner Kick mit dem Knie, er hatte echt keinen Grund, sich derartig theatralisch zu krümmen und so wehleidig herumzujammern. „Selber schuld“, warf ich ihm lässig hin und eierte genauso lässig davon, Richtung Taxistand.
Dort stand auch einer. Wieder so eine Zigarrenkiste! Egal, Hauptsache heim!
„Rheinbergerstraße? Da zerkratzen die mir um die Zeit bloß den Lack“, zeterte der Taxifahrer, und mir platzte endgültig der Kragen.
„Verdammt, ich bin grade vier Stunden in so einem Scheißlift festgesessen, hab meinen Job verloren, es gerade einem Lustmolch ordentlich gezeigt und ich wohne in Spitzing, wo jetzt alle Lackzerkratzer zu Hause vor der Glotze hängen – glauben Sie, es fehlt noch viel, bis ich Amok laufe? Und jetzt fahren Sie gefälligst und texten mich nicht weiter zu, klar?“
Er starrte mich an. „Rheinbergerstraße, okay.“
In verbissenem Schweigen fuhren wir durch die Nacht, und der Nacken unter der schwarzen Kunstlederjacke strahlte förmlich eine Mischung aus Angst und Zorn aus. Vor meinem Haus bremste er sanft ab. Dachte er, wenn er seinem Frust freien Lauf ließe, würde ich ihn erwürgen?
Ich reichte ihm zwanzig Euro nach vorne, stieg aus, sagte „Stimmt so“ und eierte zur Haustür, den Schlüsselbund fest in der Hand – und die Hundekacke am Schuh, natürlich. Wieso war dieser Weg auch nicht beleuchtet?
Im Treppenhaus war niemand. Im Erdgeschoss bei den doofen Meinerz´ hörte man schon wieder einen Krach durch die Tür. Was die Alte keifen konnte! Dann sollte sie auch Grund dazu haben! Ich reinigte meinen Schuh sorgfältig an ihrem Türvorleger und drehte ihn dann um, damit es etwas länger dauerte, bis sie herauskriegte, was da so stank, und lief dann auf Strümpfen weiter bis in den zweiten Stock.
Tür auf – Tür zu – endlich! Ich machte einen Schritt in die Wohnung und schlug der Länge nach hin. Scheiße, die Klamotten und Schuhe im Flur – und der feuchte Bademantel von heute Morgen, ich hatte mich wohl im Ärmel verfangen.
Morgen sollte ich hier vielleicht doch mal... Komisch, bei diesem Winterwetter hatte ich nie Lust, aufzuräumen. Von der Küchenzeile her roch es etwas streng, ich hatte das Geschirr vorgestern „eingeweicht“ und es dann natürlich vergessen. Und die überquellenden Mülltüten an der Türklinke...
Jetzt nicht mehr, wirklich nicht. Für heute reichte es mir.
Hatte ich mich heute Morgen nicht auf diesen Tag gefreut wie eine Verrückte?, überlegte ich, während ich mich auszog und die ruinierten Klamotten einfach fallen ließ. Und was war nun das Ergebnis? Die Präsentation versaut, einen Schaden von fünftausend Euro verursacht, den Job verloren, Tom liebte eine andere und der falsche Mann hatte mich geküsst. Dieser eingebildete Affe! Glaubte der vielleicht, sein Kuss sei ein Trostpflaster? Oder dass ich es so nötig hätte? Dass alle Frauen bloß auf ihn gewartet hatten?
So schön war er wirklich nicht, eher durchschnittlich. Langweilig. Und zerknautscht. Sein Anzug war fast genauso ruiniert wie mein Kostüm. Außerdem war er unverschämt und schmatzte beim Essen. Und ein Frauenfeind war er sicher auch: Wie er immerzu darauf gewartet hatte, dass ich hysterisch wurde!
Bloß gut, dass ich den nie wieder sehen würde!
Jedenfalls war dieser Tag so scheiße gelaufen, ab morgen konnte es nur noch besser werden. Und morgen würde ich hier wirklich mal aufräumen, Zeit genug hatte ich jetzt ja wirklich! Und einen neuen Job würde ich mir suchen, irgendeinen. Und bei MediAdvert anrufen, dass ich für das einbehaltene Gehalt eine Quittung haben wollte. Denen würde ich es noch zeigen! Allen würde ich es noch zeigen – mit einer Heike Unger sprang man nicht so um!
6: Mittwoch, 12. Februar 2003
Dieser Tatendrang hielt am nächsten Morgen noch an – jedenfalls so lange, bis ich mich im hellen Tageslicht in meiner Müllkippe umgesehen hatte.
Am liebsten hätte ich mir daraufhin wieder die Decke über den Kopf gezogen – wo sollte man da denn anfangen? Und es war schon wieder acht Uhr durch, aber das war jetzt auch egal, auf mich wartete ja niemand.
Deprimierender Gedanke. Mühsam sammelte ich genügend Kraft, um mich aus dem Bett zu wälzen und ins Bad zu taumeln. Die Haare waren verstrubbelt, die Wimperntuschenreste klebten mir an der Backe, und der Pickel am Kinn war prächtig aufgeblüht. Ich drückte eine Zeitlang daran herum, bis mein Kinn rot und verschwollen war – ohne Erfolg natürlich. Vielleicht sollte ich mir lieber doch erst mal die Zähne putzen – und einen guten Vorsatz fassen. Überhaupt, viele gute Vorsätze fassen!
Nr. 1: Immer abends abschminken!
Das Bad sah auch dermaßen grauenhaft aus... die Wanne hatte einen ekligen Rand, das Waschbecken war schmierig, der Spiegel wies so viele Zahnpastaspritzer auf, dass man kaum noch etwas sah, und auf dem Boden lagen ausgekämmte Haare.
Nr. 2: Das Bad regelmäßig putzen!
Das Bad? haderte ich im Stillen mit mir – alles!
Nr. 3: Die ganze Wohnung regelmäßig putzen!
Wieso war ich so verschlampt? War das wirklich nur die winterliche Antriebsschwäche – oder war ich die geborene Loserin, so eine, über die man irgendwann einen Fernsehbericht sah, wie erst ein Sarg und dann säckeweise Müll und Dreck aus der verwahrlosten Wohnung getragen wurden, vorzugsweise von Arbeitern der Entseuchungsbehörde (Gab´s so was? Klang plausibel) mit Atemschutzmasken... Nein, ich würde souverän und erfolgreich mein Leben meistern und es allen zeigen! Dem Arsch aus dem Lift, dem raffigen Suhrbier, überhaupt allen Pappnasen bei MediAdvert und auch Tom, der noch merken würde, wie falsch er sich entschieden hatte! Ach, er war aber so süß! Elegisch seufzend saß ich auf dem Klo. Wie konnte ich ihn von meinen Qualitäten überzeugen, jetzt, da wir nicht einmal mehr Kollegen waren?
Nr. 4: Methode finden, um Tom zu bezaubern!
Ich sah zur Seite. Bezaubern... Carla hatte einen tollen Busen und eine Wespentaille. Und Kulleraugen. Und ich? Mein Busen war nicht weiter auffällig, normal eben. Meine Taille war ein bisschen speckig, und meine Hüften schwabbelten, fand ich, vor allem, wenn ich so dasaß, leicht vornübergebeugt. Ja, da konnte man ordentlich reinkneifen!
Nr. 5: Fit und schlank werden!
Leichter gesagt als getan. Diese doofen Diäten kannte ich schon, man hatte sofort Hunger auf alles, was verboten war, und wenn man sich in einer Woche drei Pfund runtergehungert hatte, hatte man eine Woche später garantiert fünf wieder drauf. Nein, so nicht. Lieber gesund ernähren und viel bewegen. Ich änderte den Punkt im Geiste entsprechend ab:
Nr. 5: Gesund leben!
Tat ich doch, fand ich, immer noch auf dem Klo sitzend. Ich rauchte nicht, ich trank nicht – fast nie, wenigstens. Mit dem gesunden Essen allerdings haperte es ziemlich. Vor meinem geistigen Auge erstand eine Tüte Chips – mit Cheese&Onion-Geschmack. Hatte ich die nicht eigentlich verdient, nach diesem Scheißtag