Er sieht nicht nur gut aus, für einen Ausländer, dachte der junge Mensch, der sich Aliz nennen ließ, er ist auch charakterfest und lässt sich nicht einschüchtern. Die Menschen sind alle gleich auf der Erde, hier oder anderswo, bei den Paschtunen, Hasaras, Tadschiken, Usbeken oder bei den Briten, Russen, Amerikanern oder den Deutschen oder irgendwelchen anderen Völkern, da gibt es gute und schlechte, mehr oder weniger talentierte, faule und fleißige, schwache und starke, friedliche und aggressive, alle sind sie Menschen, jeder wie er ist mit der gleichen Lebensberechtigung, und jeder Mensch besitzt seinen ganz einzigartigen Charakter. Aber doch sind manche einem sofort sympathisch, viele mehr oder weniger gleichgültig, ein paar sogleich unsympathisch. Dieser Deutsche, den sie German nennen, ist mir sympathisch, sehr sympathisch. Er könnte beinahe einer dieser verehrungswürdigen Albinos sein, mit seinen hellen Augen und Haaren, denen Allah die normalen Farbpigmente genommen, dafür jedoch außergewöhnlichen Verstand gegeben hat.
„Ich habe Hunger“, sagte einer der Männer, die anderen aus ihren Gedanken reißend. „Gehen wir hinein essen.“
Mit beifälligem Gemurmel folgten ihm die Männer unter den Blicken der neugierigen Pferde.
Nur Haschem und Hermann blieben zurück, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Sie stiegen mit dem Sattelitenfunkgerät der neuen Kameraden auf die nächste Anhöhe und versuchten Kontakt mit ihrer Einsatzzentrale aufzunehmen. Nach mehreren Versuchen meldete sich zwar eine Stimme, schwer verständlich in abgehackten Lauten, doch sie wurden falsch weitervermittelt, und dann waren plötzlich die Akkus leer und damit jede Verbindung zu den Ihren im Norden abgerissen. In ihr Schicksal ergeben und unverdrossen kletterten sie den Felshang hinunter, um sich zunächst der Gruppe um Aliz anzuschließen.
Das kann ja heiter werden, dachte Hermann. Hoffentlich sind die Männer nicht nur in Ordnung und gute Kerle, sondern auch heitere Menschen. Gute Menschen sind immer heiter, heiter und musikalisch. Ich werde schon mit ihnen zurechtkommen, schließlich bin ich Brückenbauer, sogar mit dem jungen Menschen in seiner weichen Schale mit dem harten Kern. Ein eigenartiger Mensch. Er wirkt ein wenig androgyn, mit einer Spur mehr femininen Zügen als maskulinen. Doch das liegt wohl an seiner Jugend. Wie alt er sein mag? Der Menschenschlag hier ist altersmäßig schwer einzuschätzen. Die jungen Männer wirken bereits mit vierzehn, fünfzehn Jahren sehr erwachsen. Da muss Aliz noch sehr jung sein und ein Spätentwickler dazu.
Hermann hielt inne. Was machst du dir da bloß für Gedanken, schalt er sich, hör jetzt auf zu denken. Wenn das so einfach wäre, war sein nächster Gedanke, Gedanken macht man sich nicht, Gedanken kommen und gehen, sie schießen einem durch den Kopf, ob man will oder nicht. Nur wenig kann sie aufhalten. Hunger zum Beispiel, dachte Hermann, bevor er noch das Knurren des eigenen Magens vernommen hatte. Ich habe Hunger wie ein Wolf, dachte er, oder wie ein Schakal? Ganz egal, Hauptsache, man bekommt bei Aliz und seinen Leuten etwas Gutes zu essen.
Sie hatten die Talsohle wieder erreicht und schritten an dem Pferch vorbei in die Richtung, die die Männer vorhin gegangen waren. Das war ein guter Platz hier. Man konnte die Seilhürde erst bemerken, wenn man quasi unmittelbar davor stand. Die Baumkronen spendeten Schatten und Sichtschutz. Von der Luft aus würde kein Lager von Menschen mit ihren Tieren zu erspähen sein. Und von einem menschlichen Lager war hier weit und breit nichts zu entdecken. Es schien auch keine Wachen zu geben. Hermann sah sich gründlich um, als er mit Haschem näher hinzu schritt. Ein Lager war immer noch nicht auszumachen, und sie standen schon beinahe direkt vor dem Steilhang des Tales mit einer tafelglatten, berghohen Felswand.
„Nun, German, was meinst du?“ fragte Haschem.
„Gar nicht mal so schlecht, Haschem“, erwiderte Hermann. „Wo habe ihr die Kräder?“
„In einer Nebenhöhle“, antwortete Haschem. „Es sind gute, leichte Geländemaschinen, nur hapert es an Kraftstoff, seit die Brücke nicht mehr intakt ist. Mit dem Restsprit hat sich ein Kamerad auf den weiten Umweg übers Gebirge gemacht.“
Unvermittelt klaffte über Felsgeröll am Bergfuß ein großes Loch, das sich zu einer geräumigen Höhle auswuchs. In einer Nische am Eingang, von den Sonnenstrahlen unerreichbar, saß ein Mann in Nomadenkleidung und hantierte mit einem langen Draht. „Seid gegrüßt“, sagte er, „wenn ihr Freund Haschem und der Brückenbauer seid.“ Er hatte natürlich Haschem frühzeitig an der Stimme erkannt und ihn den Namen „German“ sagen hören. Ohne aufzusehen werkelte er an dem dünnen Metallstrang weiter.
Hermann setzte seinen Rucksack innerhalb des Höhleneingangs ab, Haschem tat desgleichen. Aus dem Innern der Höhle drangen die Saitenklänge einer Dambura.
„Wir sollten das Zeugs nicht so nah nebeneinander lagern“, sagte Hermann und horchte befriedigt.
„He, Mukhi“, rief Haschem den Drahtbieger an. „Schaff meinen Rucksack in die Höhle. Ganz nach hinten.“
„Drinnen brennt Feuer“, gab Mukhi zurück. Seine schwarzen Augen glühten in einem dunkelbraunen, herben Ledergesicht.
„Das macht nichts, wenn es nicht auch Kapseln sind“, sagte Haschem. „Also los!“
Mukhi, der Nomade, brummelte etwas vor sich hin, was sich nach Flüchen und Verwünschungen anhörte.
„Mach schon!“ befahl Haschem scharf.
Der Nomade rührte sich immer noch nicht, sondern zischte: „Ich rühr´s nicht an, Mann, und wenn´s dreimal in die Luft fliegt.“
„Dann wärn wir dich immerhin los samt deinem kranken Nomadenhirn“, schimpfte Haschem.
Mukhi bastelte ungerührt an seinem Draht weiter. Sieht aus, dachte Hermann, als wenn er ihn aus einem Stahlseil von der Hängebrücke herausgedreht hat.
„Was wird das, wenn´s fertig ist?“ fragte Hermann, der Brückenbauer, den Nomaden gleichwohl beschwichtigend und setzte sich neben ihn.
„Für den grauen Wolf“, antwortete Mukhi, „mit einer Schlinge, in der er sich fängt und verendet.“ Grinsend und dabei seine bräunlichen, schadhaften Zähne zeigend deutete er Hermann mit einer Gebärde das Zuziehen der Schlinge um den Hals an. „Todsicher“, sagte er.
„Er fängt damit Langschwanzmurmeltiere“, sagte Haschem. „Er ist Nomade. Darum redet er immerzu nur vom Grauwolf. Die grauen Wölfe gibt es hier wirklich, aber falls er tatsächlich einmal einen fangen sollte, wird er vom indischen Elefanten sprechen oder mindestens vom Schneeleoparden.“
„Und wenn ich den Schneeleoparden fange?“ sagte Mukhi, „was dann?“ Zähne zeigend blinzelte er Hermann an.
„Dann wirst du vom Schneemensch reden“, sagte Haschem. „Von Yeti höchstpersönlich.“
„Ich fang den Yeti“, rief der Nomade munter. „Natürlich: Ich fang den Yeti. Und dann kannst du reden, Haschem, wovon du willst.“
„Nomaden sind große Schwätzer“, sagte Haschem verächtlich abwinkend, „aber kleine Jäger“, und zog Hermann in die Höhle hinein, der im Losschreiten seinen Rucksack ergriff, beinahe wie der Buskschi-Reiter den kopflosen Hammel. Er wusste die Rucksäcke mit ihrem Inhalt nicht gerne so nah beieinander. Das Spiel der Dambura klang lauter und der Duft von einem Reisgericht waberte ihnen entgegen, und Hermann freute sich, dass es jetzt etwas für seinen knurrenden Magen geben würde.
Die Männer saßen dicht gedrängt am Boden um eine große kupferne Platte mit Qabeli, einem Gericht aus braunem Reis mit Zwiebeln, Rosinen, Karotten und winzigen Lammfleischstücken. Daneben lag ein Tuch ausgebreitet, Platz für eine weitere Speiseplatte. Haschem setzte sich ohne weiteres daran mit gekreuzten Beinen und bedeutete Hermann mit knapper Geste, es ihm gleich zu tun.
Die Höhle war dürftig erhellt durch das flackernde Licht von mehreren rußenden Fackeln in Halterungen an den Felswänden. Bestimmt besaß die Höhle einen