Jetzt hatte er Zeit. So viel, dass er von früh bis spät vor dem Polizeirevier stand und Fragen stellte.
Der Amtsleiter der Schutzpolizei erteilte ihm schließlich Hausverbot. Kowalski nahm sich daraufhin einen Anwalt und dieser riet ihm zunächst, eine Klage gegen unbekannt einzureichen.
Das Verfahren zog sich ein halbes Jahr lang hin. Man trug in dieser Zeit alle Aussagen der Polizisten und ihrer Kolleginnen zusammen. Es waren nicht viele, und darunter befanden sich keine konkret verwertbaren Fakten.
Auf einen möglichen Skandal aufmerksam geworden, wurde auch eine interne Ermittlungsakte bei der Polizei angelegt. Diese ergab jedoch keine Erkenntnisse, dass es eine ausufernde Mobbingsituation gegen Kowalskis Tochter gegeben hätte. Sie hatte ihrem Vorgesetzten nie eine Beschwerde eingereicht.
Der Anwalt erachtete die Beweislage schließlich als sehr dünn, um damit einen Prozess zu gewinnen. Er riet Kowalski davon ab.
Einen Prozess zu gewinnen war diesem aber gar nicht so wichtig, er wollte weit mehr. Er wollte Aufklärung und ein Schuldeingeständnis des oder der Verantwortlichen. Hätten sie mit ihm geredet, wäre er eventuell zur Ruhe gekommen. Aber das taten sie nicht und so bohrte er weiter.
Einige negative Pressemeldungen über das zuständige Revier hatte er schon erreicht.
So stand in der örtlichen Tageszeitung ein Artikel mit der Überschrift: »Polizistin nahm sich das Leben – Vater klagt Arbeitskollegen und Vorgesetzte an.«
Sein Anwalt hatte jedoch weiterhin Bedenken.
»Unsere Beweislast ist nicht ausreichend für eine Verhandlung. Ich rate Ihnen, die Klage zurückzuziehen. Noch sind wir in der Zeit.«
»Aber wir wissen doch, dass es einer aus Berlin war, der meine Tochter belästigt hat.«
»Ja, aber wer es wirklich war, sagt man uns nicht. Muss die Polizei auch nicht. Sie schützt ihre Leute. Wenn Ihre Informantin aussagen würde, … ja. Aber sie sagt nicht aus. Sie hat Angst. Und wir haben somit nur Vermutungen. Gibt es wirklich keine Aufzeichnungen von Ihrer Tochter? Videos? Tonaufnahmen? Handyfotos?«
Kowalski war am Boden zerstört. Er wusste, dass sich seine Tochter umgebracht hatte, weil sie dazu getrieben wurde. Nur beweisen konnte er es nicht.
»Nein. Ich habe mir ihr Handy angesehen, da war kein Foto drauf.«
»Tja. Wie gesagt. Ohne Beweise haben wir schlechte Karten. Überlegen Sie sich das noch mal mit der Anzeige. Ich rate Ihnen davon ab, einen Prozess anzustreben. Rufen Sie mich an, wenn sich etwas Neues ergibt. Schönen Tag noch.«
Damit beendete der Anwalt das Gespräch.
Kowalski ließ die Schultern hängen und schüttelte den Kopf. Dann ging er in das alte Zimmer seiner Tochter, in dem sie die letzten Wochen vor ihrem Tod verbracht hatte. Bis heute konnte er es nicht betreten. Es erinnerte ihn zu viel an seine Tochter.
Das erging ihm vor Jahren, als seine Frau starb, genauso. So schlief er damals wochenlang auf dem Sofa im Wohnzimmer. Erika Kowalski war an einer plötzlich auftretenden Lungenembolie in der Nacht friedlich im Bett gestorben. Durch eine vorausgegangene Thrombose an der Vene des rechten Beines hatten sich Rückstände gelöst und waren bis vor die beiden Lungenflügel gewandert. Hier verschlossen sie die Venen. Die Lunge wurde nicht mehr mit Blut versorgt. Erika Kowalski hatte einfach aufgehört zu atmen.
Als ihr Mann früh am Morgen mit frischen Brötchen nach Hause kam und sie wecken wollte, konnte sie ihm keine Antwort mehr geben. Die Totenstarre hatte schon eingesetzt und ihre Körpertemperatur fühlte sich kalt an.
Kowalski sprach wochenlang nichts und erst dann kehrte er ins Leben zurück, nicht zuletzt, um seiner Tochter ein Beispiel zu geben. Sie war das Einzige, was ihn motivierte, weiterzuleben.
Nun hatte ihn der Anwalt auf eine Idee gebracht. Er suchte nach Beweisen im Zimmer.
Und er fand etwas.
Im Bücherregal zwischen den alten Lehrbüchern aus der Schulzeit und den kitschigen Liebesromanen fand er ein rotes Buch, welches zwar genau die gleiche Größe hatte wie alle anderen Bücher, aber nur halb so dick war. Er nahm es aus dem Regal und sein Pulsschlag ging schneller. Der Aufkleber war mit blauer Tinte in schönsten Buchstaben beschrieben: Mein Tagebuch.
Marions Tagebuch!
Warum war er nicht gleich auf die Idee gekommen, hier nachzuschauen?
Aber warum sollte er?
Er hatte nicht gewusst, dass sie ein Tagebuch geschrieben hatte. Sie hatte mal gesagt, dass sie so etwas kitschig finden würde. Außerdem macht man das heute doch mit Videoaufzeichnungen, wenn überhaupt, in ihrem Alter.
Er blätterte Seite für Seite um und fand für beinahe jeden Tag ihrer Dienstzeit einen Eintrag.
Er war erschüttert. Seine Tochter hatte alles genau aufgeschrieben. Wer, wann, was, wie es geschah. Wie sie sich fühlte. Welcher Pein sie ausgesetzt war. Wer ihr das alles antat.
Kowalski weinte. Er hatte seiner Tochter nicht helfen können. Er hatte all dies nicht gewusst, was er jetzt las. Sie hatte ihn nicht ins Vertrauen gezogen.
Warum hatte sie ihn nicht ins Vertrauen gezogen? Er war doch ihr Vater. Er hätte ihr helfen können.
Kowalski dachte nach. Hätte er ihr wirklich helfen können? Wohl eher nicht. Was hätte er denn tun können? Zu den Kollegen gehen und ihnen sagen: Hört mal zu, ihr bösen Buben, wenn ihr meine Tochter nicht in Ruhe lasst, bekommt ihr es mit mir zu tun!
Kowalski sah die Ausweglosigkeit.
Er rief nochmals seinen Anwalt an und teilte ihm den Fund des Tagebuches mit. Der bestellte ihn für den nächsten Vormittag in die Kanzlei.
Am nächsten Tag schaute sich der Anwalt das Tage-buch an und besprach sich mit seinem Mandanten.
»Die Namen sind nicht ausgeschrieben. Nur die Anfangsbuchstaben. Das ist nicht verwertbar. Da macht kein Richter mit.«
»Aber wir können es doch zumindest probieren. Die Datierungen sind ausschließlich Arbeitstage von Marion.«
»Selbst wenn wir damit den Richter überzeugen könnten, die Gegenseite wird uns das Tagebuch um die Ohren hauen. Das kann sonst wer geschrieben haben. Es kann auch eine Romanvorlage sein. Reine Fiktion.«
»Das glauben Sie doch nicht im Ernst!«
Kowalski war empört.
»Nein, natürlich nicht. Aber die Gegenseite wird so argumentieren und wir können keinen Beweis antreten.«
»Wir müssen es versuchen. Ich werde sonst noch verrückt.«
»Also gut. Machen wir Folgendes: Ich werde sehen, ob wir einen Gesprächstermin beim zuständigen Richter bekommen können. Das ist zwar