„Beantworten Sie meine Frage.“
Die Bedienung kam und stellte das Glas Bier hin. Kammer ignorierte das Mädchen.
„Ich war an diesem Tag im Amt.“
„ Möglich, aber nicht um die maßgebliche Uhrzeit.“ Oliver übernahm, nachdem er sich die Finger mit einer Serviette abwischte.
„Wie können Sie das behaupten?“ Das Glas Bier stand vor dem Staatssekretär. Als er es in die Hand nahm und einen Schluck trank, konnte er das leichte Zittern nicht verbergen.
„Warum habe ich Sie wohl gefragt, ob Sie einen Zwillingsbruder haben?“ intervenierte Alex, und Kammer drehte seinen Kopf nach rechts und sah ihn mit einer belämmerten Miene an.
„Sie waren um diese Uhrzeit in Berlin im "ADAGIO" Hotel auf einer juristischen Tagung und hielten einen Vortrag. Diese Tagung endete um dreizehn Uhr. Muss ich mehr sagen?“ fuhr Oliver fort.
Dann wurde der Staatssekretär sehr still und wechselte die Gesichtsfarbe, seine Hände umfassten krampfhaft das Bierglas, er starrte aus dem Fenster. Draußen fiel Schnee. Oliver betrachtete seine Gesichtszüge, dann legte er demonstrativ die Fachbroschüre vor ihm auf den Tisch. Kammer bewegte seinen Kopf nicht.
„Sie haben einen Meineid geschworen, Herr Justizstaatssekretär,“ sagte Oliver in einem scharfen Ton. Seine Muskeln spannten sich, und Alex drückte ihm sanft den Arm.
Kammer zuckte zusammen und schaute sich im Cafe um, aber es waren weit hinten nur einzelne Tische besetzt. Er spürte, wie sich etwas Schlimmes zusammenbraute.
„Geben Sie mir Bedenkzeit, bitte….“ sagte er leise und schaute Oliver mit einem Hundeblick an. Der schüttelte seinen Kopf. „Wir entscheiden jetzt und hier. Und geben Sie mir ihre Wanze, oder wir zeigen Sie sofort an und erwirken einen neuen Prozess gegen Sie und Ihren Chef.“
Kammer wurde weiß im Gesicht.
Dann schaute er Alex und Jana kurz an. Er saß in der Falle und hatte keine Zeit zu irgendwelchen Spielchen. Die Bedienung kam und fragte, ob die Herrschaften noch etwas zu trinken wollten. Alex bestellte noch einen Tee, Oliver und Jana noch einen Kaffee, Kammer schüttelte den Kopf.
„Was verlangen Sie?“ fragte er leise.
„Zuerst die Wanze, dann reden wir weiter,“ wiederholte Oliver schroff und winkte mit dem Zeigefinger.
Kammer bekam einen hochroten Kopf und öffnete langsam die beiden obersten Knöpfe seines Hemdes. Dann holte er die Wanze heraus und legte sie langsam auf den Tisch.
„Schief gelaufen, das alles, oder? Wie kann man denn so dämlich sein, seinen eigenen Terminkalender nicht gefragt zu haben, als Ihr Chef Sie um das Alibi bat, oder anflehte.“
Der Justizstaatssekretär reagierte nicht. Schnell wurde ihm bewusst, dass er in einer gefährlichen Situation war. Meineid kann Gefängnis bedeuten. Seine Karriere wäre passé. Sein Ruf kaputt. Sein Freund, der Justizminister würde neu angeklagt, und auch dessen Reputation wäre dahin. Er begann vor Angst zu schwitzen, wurde blass im Gesicht, zitterte noch mehr unter den gnadenlosen Augen dieser drei. Er holte eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche und steckte sich eine an.
„Was… wollen Sie?“ fragte er wieder mit leiser Stimme und blies den Rauch aus.
„Ob Sie es als Justizstaatssekretär glauben oder nicht,“ sagte Oliver in einem hämischen Ton, „wir wollen nichts weiter als Gerechtigkeit.“
Kammer rauchte nervös, holte ein Taschentuch aus der Hose und wischte sich die Schweißperlen ab, behielt das Taschentuch in der Hand.
„Und was wäre Gerechtigkeit?“ fragte er vorsichtig.
„Sie und Ihr sauberer Justizminister und Ihr Kollege gehören in den Knast. Das wäre gerecht.“
Kammer inhalierte hastig, zerquetschte den Zigarettenstummel im Aschenbecher und steckte sich eine neue an. „Wem dient das alles? Für wen arbeiten Sie?“ reagierte er in einem verzweifelten Ton.
„Zwei Fragen, zwei Antworten. Es dient der Gerechtigkeit. Und die Antwort auf die zweite Frage ist, dass in Ihren Vorstellungen als Justizstaatssekretär scheinbar kein Platz für die erste Antwort zu existieren scheint. Es ist eine Schande, sich nicht vorstellen zu können, dass "Bürgerinnen und Bürger" einen Gerechtigkeitssinn haben. Sonst hätten Sie diese unverschämte Frage nicht gestellt.“
„Kann ich wenigstens mit Praun sprechen?“
Oliver antwortete, sie würden alle in Prauns Villa fahren und könnten dort weiter verhandeln. Das Cafe würde bald schließen, und die Nacht würde sehr lang werden.
„In seine Villa? In die Wohnung des Justizministers? Jetzt sofort?“
„Ja. Rufen Sie ihn an, dass wir unterwegs sind.“
Kammer erschrak. Aber letztendlich hatte er keine andere Wahl. Zu viel stand auf dem Spiel. Und Praun würde vielleicht mit seiner Autorität den Karren aus dem Dreck ziehen. Vielleicht.
Er holte sein Handy aus der Jackentasche und wählte eine Nummer. Während er wartete, schaute er zu Boden. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Minister abnahm. Hastig zog er an seiner Zigarette.
„Hier ist Reinhard. Du musst nachher zu Hause sein….nein…ich kann jetzt nichts sagen, in einer halben Stunde komme ich mit drei Leuten.. …ja, es ist was passiert…sei bitte auf jeden Fall zu Hause….“ Er drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus.
Dann wählte er neu. „Warte nicht auf mich, Waltraut, es wird spät werden….ja, ich liebe dich auch….“
Nachdem bezahlt wurde, stiegen sie alle in Alex` Wagen. Kammer saß auf dem Rücksitz und schaute aus dem Fenster. Draußen war es dunkel geworden. Während der Fahrt dirigierte er sie zu Prauns Wohnung. Dann wagte er einen neuen Versuch. „Mit Geld kann man das kleine Mädchen nicht wieder lebendig machen, das weiß ich, aber mit Geld kann man armen und hilfsbedürftigen Menschen helfen. Und der Familie der Kleinen.“
Jana, die neben ihm saß, reagierte. „ Ein Kind tödlich überfahren, Fahrerflucht begehen, Bestechungsversuch eines Zeugen, vielleicht noch Mordversuch, einen Meineid schwören, und jetzt noch der Bestechungsversuch bei uns. Was sagen denn die Juristen zum Strafmaß für diese Ansammlung von Vergehen?“
„Was heißt hier Mordversuch?“ fuhr er sie an.
„ Wir meinen den Überfall auf den alten Mann zwei Tage vor der Verhandlung. Er sollte mundtot gemacht werden,“ schnauzte Oliver und drehte sich um.
Jetzt wagte Kammer keine Widerworte mehr, jetzt wusste er, dass die drei genau recherchiert hatten und dass es sehr eng werden wird.
Im Ministerium hatte Glauburg noch mitgehört, wie Kammers Alibi geplatzt war und dass er die Wanze abliefern musste. Aber er sollte auf keinen Fall reagieren und sich bei Kammer melden.
Glauburg wusste, dass Praun nicht im Hause war, er selbst saß ja in seinem Büro.
Klar, Praun war bei einer Lady. Aber keiner von ihnen wollte daran denken, dass ihr Chef das Kind überfahren hat und dann abgehauen ist. Denn dann wären ihre Alibis sehr schwer zu ertragen.
Glauburg verdrängte immer wieder seinen furchtbaren Verdacht, dass Praun bereits früher von der Lady weggefahren ist und um zwölf Uhr vierzig das Kind überfahren hat; und dann erst um fünfzehn Uhr im Ministerium erschien.
Als dieser Journalist am Telefon das Stichwort „Zwillingsbruder“ sagte, lief es dem Staatssekretär kalt und heiß den Rücken herunter. Glauburg sollte also mitkriegen, was die drei vorhatten; und das konnte er nur, wenn er verwanzt war und mithören konnte.
Nach dem damaligen Gespräch, in dem Praun von ihnen gefordert hatte, ihm das Alibi zu geben, waren sie sich im Klaren darüber, dass sie sich nicht verweigern konnten. Ihre ganze Existenz war von