Very aß in aller Ruhe weiter, dann blickte er auf. „Nein.“
„Das ist wie ein Fünfer im Lotto…mit Zusatzzahl!“ Sein Ton wurde lauter und aggressiv. Einige Gäste blickten auf.
„Gut, Very. Sie sind ein verdammtes Schlitzohr. Ich mache Ihnen ein neues Angebot.“
Liedmann erhöhte auf dreitausend, aber Very schüttelte immer wieder den Kopf.
„Warum?“ fragte Liedmann und versuchte, seinen Zorn unter Kontrolle zu kriegen, „dreitausend Euro sind für dich wie ein Sechser im Lotto, verflucht….“
Er sah seine Mission als gescheitert an. In seinem Kopf blühten Ängste auf.
Very legte das Besteck zur Seite. „Sie sind sicher der Meinung, obdachlose Menschen sind wertlose und nutzlose arme Teufel. Ich weiß nicht, was sich der Herr Minister gedacht hat, als er beschleunigte und abhaute. Ich habe so was wie ein Ehrgefühl, ob Sie`s glauben oder nicht.“ Liedmann stand so abrupt auf, dass der Stuhl umfiel. Er warf einen Fünfziger auf den Tisch und ging wortlos hinaus.
Am 30. 10. 2005 holte die Ehefrau des Ministers ein Schreiben von der Ordnungsbehörde der Stadt Frankfurt aus dem Briefkasten. Praun wurde beschuldigt, am 17.10.2005 um 12. Uhr 35 mit dem Mercedes, amtliches Kennzeichen HG-MM-395, auf der Berliner Strasse die Geschwindigkeit um 43 km überschritten zu haben. Ein Beweisfoto lag dabei. Hanna Praun lief es eiskalt den Rücken herunter. Am 17.10. um 12 Uhr 40 verunglückte die kleine Annabell tödlich, als ein Mercedes mit hoher Geschwindigkeit auf einen Zebrastreifen fuhr….. Ihr Mann war also an diesem Tag mit dem Mercedes unterwegs…Fünf Minuten bevor er das Kind getötet hatte, wurde er wegen Geschwindigkeitsübertretung geblitzt…wahrscheinlich ein paar Meter vor dem Zebrastreifen…
Der Hessische Landtag wurde einberufen, um die Immunität des Ministers aufzuheben.
Praun wurde angeklagt.
Zwei Tage vor der Gerichtsverhandlung überfielen spät abends drei Männer Ludwig Very in seinem Zimmer und wollten ihn aus dem Heim schleppen. Weil der Mann so laut schrie, stürzten sich zehn oder elf Mitbewohner auf die Eindringlinge und verjagten sie.
In der Gerichtsverhandlung Anfang November, in der die Eltern als Nebenkläger auftraten, bestritt der Anwalt des Angeklagten alles.
Ein Beamter der Abteilung Datenbank sagte aus, dass der Computer auf Grund der Informationen einen Abgleich gemacht und es sich um den Privatwagen des Ministers gehandelt haben könnte.
Als der ganze Unfall noch einmal in allen Einzelheiten rekonstruiert wurde, weinte die Mutter leise, und der Vater hatte Tränen in den Augen. Die Eltern der kleinen Annabell trugen schwarz. Edmund Henrich war Angestellter in einem Fuhrunternehmen, sie war Hausfrau.
Dann sagten zwei Zeugen unter Eid aus, dass Heiner Praun an diesem Tag und zu dieser Stunde in seinem Büro saß und demzufolge an dem Unfall nicht beteiligt gewesen sein konnte. Sie hießen Thorsten Glauburg und Reinhard Kammer.
Der alte Mann als Zeuge sagte aus, dass er sich Teile des Kennzeichens gemerkt und das Gesicht des Fahrers gesehen hatte: ein großer, weißer Mercedes, der Fahrer habe weißes kurzes Haar gehabt und trug eine randlose Brille.
Schließlich habe ihn später ein Mann im Heim besucht und aufgefordert, seine Aussage gegen Geld zu widerrufen. Dieser Mann nannte sich Johann Liedmann.
Der Zeuge Ludwig Very wurde von dem Anwalt in die Mangel genommen und als obdachloser Penner unglaubwürdig hingestellt, ihm wurde nach suggestiver Befragung vorgehalten, so viel Alkohol getrunken zu haben, dass er nicht in der Lage gewesen sein kann, Teile des Kennzeichens und das Gesicht einwandfrei erkennen zu können. Er müsse die Zahlen und Buchstaben durcheinander gebracht haben.
Und der von ihm behauptete Bestechungsversuch sei reine Fantasie. Einen Johann Liedmann gäbe es gar nicht.
Der Staatsanwalt hielt sich sehr bedeckt und erhob keinerlei Einwände gegen diese offensichtlich suggestive und aggressive Vernehmung.
Dann versuchte der Anwalt, Jana fertigzumachen, indem er behauptete, dass sie sehr wahrscheinlich zu schnell gefahren sei und das Mädchen angefahren, und infolgedessen Schuld am Tod des kleinen Kindes habe.
Jana sprang auf und schrie den Anwalt an, es sei eine Unverschämtheit, die Tatsachen einfach zu verdrehen. Auch Lars war aufgesprungen: „Eine Frechheit ist das!“
Sie wurden vom Richter ermahnt.
Heiner Praun wurde nach kurzer Beratung im Richterzimmer mangels Beweise freigesprochen.
Jana war wie gelähmt, als sie das Urteil vernahm.
Sie gingen aus dem Gerichtsgebäude. Vor ihnen liefen die Eltern der kleinen Annabell. Sie hatten ihre Köpfe gesenkt. Jana holte sie ein und versicherte ihnen: „Ich werde das nicht gelten lassen.“ Edmund Henrich blieb kurz stehen: „Vergessen Sie`s, aber trotzdem vielen Dank.“
Der Kloß in ihrem Hals wurde immer größer, die Verzweiflung dieser Eltern wurde plötzlich zu ihrer eigenen Verzweiflung.
Dann gingen sie in ein Cafe und unterhielten sich über den Fall.
„Das war es schon,“ sagte sie. „Und jetzt gehen alle wieder zur Tagesordnung über, das Mädchen ist tot, die Eltern sind für ihr restliches Leben verzweifelt, und der Minister genießt diesen sonnigen Tag als freier Bürger.“
„Wie sollte wohl der Richter entscheiden, wenn zwei Zeugen unter Eid aussagen, dass der Minister in seinem Büro saß, wenn nur ein Zeuge behauptet, dass er der Fahrer war? Und dieser Zeuge auch noch ein Obdachloser ist?“ erläuterte Oliver.
„Aber er hat ihn gesehen, weißes, kurzes Haar, eine randlose Brille…ob Penner oder nicht, und er hat Teile des Kennzeichens gesehen, und der Computer hat daraufhin kombiniert, dass es Prauns Wagen war,“ sagte Jana.
„ Vorsicht…gehandelt haben könnte! Vielleicht hat den Wagen ein Bekannter gefahren, der so aussieht wie der Minister,“ gab Oliver zu bedenken.
„Das glauben Sie doch selber nicht…“ Jana wurde zornig. Lars schaute sie an: „Jana, bitte!“
„Seltsam ist natürlich, dass man den Zeugen bestechen wollte,“ gab Oliver zu.
„ Na also…“ sagte sie. Oliver setzte seine Kaffeetasse ab. „Klar ist, dass es für die Partei verdammt schlecht aussieht, wenn ihr Parteimitglied und Minister Praun verurteilt werden sollte. In ein paar Wochen stehen die Landtagswahlen an.“
Alle drei schwiegen. Jana stocherte mit dem Löffel in ihrer Kaffeetasse, Oliver umklammerte mit beiden Händen sein Glas, und Lars beobachtete die anderen Gäste im Lokal.
„ Ich komme mit dieser Ungerechtigkeit nicht klar, ich kann sie nicht akzeptieren, ich will sie nicht akzeptieren. Hier ein totes Kind, leidende Eltern und da ein Schuldiger, der nicht bestraft wird.“
Keiner kommentierte sie. Oliver nickte.
„Ich muss etwas unternehmen. Etwas, was die Leute aufrüttelt.“
Oliver beobachtete sie. Sie gefiel ihm. Er spürte ihren Zorn gegen diese unglaubliche, formale Ungerechtigkeit. Und er spürte seinen eigenen Zorn.
Gedanken kreisten in seinem Kopf, auch er kämpfte für diejenigen, die selbst keine Kraft mehr hatten. Er dachte an die Eltern, ihr Leiden und ihre Trauer. Und ihm wurde seine Erkenntnis wieder bewusst: es gibt den inneren großen Zusammenhang. Eins