Die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Martin Renold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Renold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738050219
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fünfzig Jahre her sein seit dem Beginn des Krieges. Und am gleichen Tag werden es fünfzig Jahre sein, seit ich heimlich in meinem Zimmer mit den Aufzeichnungen begann. Es sind keine Kommentare, keine persönlichen Stellungnahmen. Lauter lapidare Aufzeichnungen des Kriegsgeschehens. Nachrichten, wie ich sie aus dem Lautsprecher gehört oder in der Zeitung gelesen hatte. Mehr kann man ja wohl auch kaum von einem Zwölfjährigen erwarten. Für Historiker also vollkommen uninteressant. Für mich haben sie einen persönlichen Erinnerungswert.

      Ich erinnere mich noch gut an jenen denkwürdigen 1. September 1939, als ich mit den Aufzeichnungen begann. Unser Lehrer, Herr Vogel, war kurz vor der Pause aus dem Schulzimmer gerufen worden. Die Klasse, in der rechten Bankreihe die zwanzig Knaben, in der linken ebenso viele Mädchen, saßen auf einmal ganz ruhig.

      Es hatte sich herumgesprochen, dass Hitler losgeschlagen hatte. „Seit 4 Uhr 45 wird zurückgeschossen.“ Niemand zweifelte, dass zuerst die Deutschen angegriffen hatten.

      Beinahe im selben Augenblick huben die Glocken von der evangelischen Heiligkreuzkirche auf der andern Seite des Steinachtales und die der katholischen Marienkirche im Neudorf zu läuten an. Ich weiß nicht, was die andern Jungen und Mädchen in diesem Augenblick empfanden. Mir traten Tränen aus den Augen. In meiner Kehle und in der Brust begann es zu würgen. Einen Moment lang nur. Dann klappte ich plötzlich den Deckel der Schulbank hoch und erhob mich. Aufrecht stand ich da in der hintersten Bankreihe und begann zu singen: „Rufst du mein Vaterland“. Die Nationalhymne. Doch ich kann nicht singen. Immer wenn ich es versuchte, tönte es falsch. Zu Hause jedoch hatte ich oft und gerne gesungen. Bis einmal eine der beiden schon ältlichen Töchter der Witwe Zuberbühler, die über uns im dritten Stock wohnten, sagte: „Ich freue mich immer, wenn ich an eurer Tür vorübergehe und dich so frisch von der Leber weg singen höre, auch wenn es ganz falsch tönt.“ Das war ein herber Schlag gewesen. In der Schule bewegte ich nur noch den Mund. Und daheim sang ich von da an nur noch in mich hinein.

      Jetzt aber stand ich da und sang die ganze erste Strophe. Keiner stimmte mit ein. Aber es war unheimlich ruhig um mich her. Niemand wagte zu lachen. Man spürte die Betroffenheit der Schüler. Noch immer läuteten die Glocken. Nicht einmal der kleine Alfred Hohl, der mich so oft auf dem Schulweg plagte, mich an eine Hauswand oder einen Zaun drückte oder ins „Schwitzkästchen“ nahm, verzog den Mund. Er, der einmal durchgebrannt und drei Tage vermisst war, weil die Mitschüler ihn, den Kleinsten, gehänselt hatten, er, der es wagte, bei einem Hosenspanner dem Lehrer ins Schienbein zu treten – selbst er trug bei zu der Totenstille, die sich verbreitete, nachdem die Glocken endlich schwiegen und bis Herr Vogel wieder hereinkam und uns mit einer kurzen Erklärung nach Hause schickte.

      Wir packten unsere Sachen zusammen. Keiner stürmte auf den Pausenhof hinaus wie sonst. Vor dem Schulhaus und auf der Straße bildeten sich Grüppchen. Es wurde diskutiert. Wie lange der Krieg dauern würde. Zwei, drei Monate? Vielleicht den ganzen Winter über. Man dürfe die Deutschen nicht unterschätzen. Aber wenn die Engländer und die Franzosen den Deutschen den Krieg erklärten, dann könnte es nicht so lange dauern. Dann müsste Hitler auf zwei Fronten kämpfen. Das wird er nicht lange überstehen. Dass er diesen Krieg verlieren würde, daran zweifelte keiner.

      Hitler muss diesen Krieg verlieren, dachte ich. Wo bliebe da der liebe Gott, wenn dieser Teufel gewinnen würde? Wo bliebe die Gerechtigkeit? Das war schon damals mein fester Glaube und blieb es ununterbrochen, auch als die Deutschen Frankreich Belgien und Holland eroberten und den ganzen Balkan besetzt hatten, als sie in Russland bis zur Wolga und bis vor Moskau vorstießen und in Afrika bis El Alamein.

      Langsam verzogen sich die Grüppchen. Der Schulhof leerte sich. Alfred Hohl und ich hatten den gleichen Heimweg. Wir gingen friedlich nebeneinander her.

      Am nächsten Tag marschierte ein Bataillon Soldaten auf den Schulhof und hinüber auf den Rasenplatz. Dort stellten sie sich in Reih und Glied auf. Eine Feldmusik war dabei. Zum ersten Mal hörte ich den eintönigen Fahnenmarsch, der mir durch Mark und Bein ging. Die Soldaten erhoben die Hand zum Schwur. Fahneneid. Wieder kamen mir die Tränen. Wieder spürte ich ein Würgen im Hals.

      Sollte ich mich schämen, dass ich bei feierlichen Anlässen die Tränen nicht zurückhalten konnte? Später blieben lange Jahre meine Augen trocken. Heute überwältigt es mich wieder, wenn Vreni Schneider oder Franz Heinzer auf dem Treppchen zuoberst stehen, die Schweizer Fahne hochgeht und die Landeshymne intoniert wird, wenn in Berlin die Menschen sich umarmen, in Prag Dubček neben Havel auf dem Balkon erscheint. Ich habe mich damals nicht geschämt und schäme mich auch heute nicht.

      Ich habe an der Landesausstellung 1939 auf dem „Höhenweg der Eidgenossenschaft“ geweint, als ich vor dem Standbild des Wehrmannes stand, der, vor sich den Helm auf dem Boden, sich den Waffenrock überzog und dazu das „Rufst du mein Vaterland“ erklang. Noch war damals kein Krieg. Doch ich wusste, dass der Krieg kommen würde. Ja, ich hoffte, dass die Engländer und die Franzosen dem Treiben Hitlers und Mussolinis nicht mehr länger zusehen würden. Zorn hatte mich erfüllt, als Mussolinis Truppen in Abessinien einfielen. 1936. Ich glaube, das war meine früheste Erinnerung an ein Ereignis auf der großen Weltenbühne. Und dann an jenem Karfreitagmorgen, drei Jahre später, als Mussolini Albanien angriff und annektierte. Und erst das Münchner Abkommen! Dass Chamberlain so blind, so vertrauensselig war, konnte ich nicht verstehen. Ich erinnere mich auch an Vaters Verachtung für Bundesrat Motta, der in einer öffentlichen Rede Mussolini für seine Mitwirkung am Münchner Abkommen gelobt hatte. Mir war klar, dass sich Hitler nie mit dem Sudetenland begnügen, sondern bald auch die ganze Tschechei besetzen würde. Genau so, wie er Österreich seinem Reich angeschlossen hatte.

      Der Name Dollfuss ist Teil meiner Erinnerung, obschon die damaligen Vorgänge nicht in mein Bewusstsein gedrungen waren. Wenn von der Ermordung von Dollfuss die Rede war, dachte ich immer an den Teufel mit dem Pferdefuß. Auch Schuschnigg war ein so lächerlicher Name. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte.

      Eines Tages, als ich von der Schule kam, erzählte mir die Mutter in grenzenloser Empörung, was sie am Radio gehört hatte. Die Deutschen seien in Wien einmarschiert, und die Weiber – sie sagte tatsächlich Weiber – hätten geschrien: „Der Adi kommt, der Adi kommt!“ Nicht etwa aus Angst. Nein, gejubelt hätten sie. Man stelle sich so etwas vor. Bei uns in der Schweiz könnte so was nie passieren. Zwar gebe es auch bei uns – Gott sei’s geklagt – einige Nazis, Fröntler. Aber die wären bald ausgeschaltet. Alle, Frauen und Männer, würden sich wehren. So feig und schlapp wie die Österreicher würden wir uns nicht ergeben. Eine Gefahr sei Hitler schon. Auch für uns. Die gleiche Sprache. Heim ins Reich. Großdeutsches Reich. Der Gotthard. Zum Glück sei Mussolini nicht daran interessiert, dass Hitler bis zur italienischen Grenze vorstoße. Auch wenn er selber gerne das italienischsprachige Tessin zu Italien schlagen würde.

      Man munkelte von den guten Beziehungen Mottas zu Mussolini. Dass aber unser Schicksal von solchen Männern abhängen solle, das wollte weder Vater noch Mutter in den Kopf. Auch mir, dem damals Elfjährigen, nicht.

      Und jetzt war es, wie vorauszusehen, zum Krieg gekommen. Angst und Zuversicht mischten sich seltsam in meinem Herzen. Darf man sich einen Krieg herbeiwünschen, um einen Wahnsinnigen zu bremsen? Einen Hitler oder Saddam Hussein? Noch konnte ich mir keine Vorstellung von so einem Krieg machen. Wer konnte es denn überhaupt? Die Alten vielleicht? Noch gab es welche, die den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 erlebt hatten. Ab und zu hörte man im Radio, wieder sei ein Veteran des Siebziger Krieges gestorben. Oder jene, die den Weltkrieg miterlebt hatten? Manchmal erzählte Vater von der Grenzbesetzung 1914/18, wie sie im Bündnerland am Umbrail Wache gestanden hatten, und Mutter erinnerte sich, dass sie im Aargau den Kanonendonner aus dem Elsass gehört hatten.

      Aber jetzt war der Krieg noch weit weg. In Polen. Die Deutschen drangen rasch vor. In meiner Chronik vom 4. bis 16. September: „Die Polen verteidigen sich wie Löwen. Große Kämpfe bei Lodz. Lemberg und besonders bei Modlin und Warschau.“ Doch am 17. September heißt es: „Die Russen marschieren in Polen ein. Für England und Frankreich ist es keine Überraschung, weil man es schon lange geahnt hat.“ Und am 23. September trug ich in mein Oktavheft ein: „Vom 1. bis 23. September sind etwa 400 bis 600 deutsche Flugzeuge abgeschossen worden.“ Wie viele besaßen sie wohl noch? Offenbar waren diese Zahlen nicht bekannt. Auf den letzten Seiten meines Büchleins hatte ich verschiedene