Die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Martin Renold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Renold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738050219
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wohl nicht sein. Ich trete ans Fenster. Jetzt kann ich es entziffern. Ich schließe die Augen und sehe auf einmal einen Kessel vor mir mit einem zähen, schwarzen Inhalt. „Natürlich: Wacholder. „Wacholderlatwerge“ oder, wie meine Patin sagte, „Räckholderlattwäri“. Eingedickter, gezuckerter Wacholdersaft.

      Ich schaue hinaus und weiß nicht, träume ich oder bin ich wach. Mein Blick geht zu den Jurabergen. Sie sind von starkem Raureif bedeckt. Geschneit hat es nicht. Weihnachten war wieder einmal grün. Der Schnee lässt noch auf sich warten.

      Mein Blick geht weiter als bis zur Wasser- und zur Gislifluh. Die Hügel dort hinten sind der Kaien und die Eggersrieter Höhe. Ich stehe im Haus in St. Gallen an der Scheidwegstraße 13. Baujahr 1904. Diese Zahl stand in dem dreieckigen Mauergiebel gerade unter den beiden Stubenfenstern unserer Wohnung im zweiten Stock. Ob der wohl noch dort steht, nachdem der neue Besitzer das Haus renoviert hat? Damals hat die Mutter, keine zwei Monate nach Vaters Tod, die Kündigung bekommen. Am 24. Dezember, am Heiligabend, lag sie in ihrem Briefkasten. Frohe Weihnachten. Es war der Nachbarssohn, den sie schon als Schuljungen gekannt hatte. Jetzt führte er den Betrieb seines Vaters. Seine Mutter hatte uns voller Stolz erzählt, dass ihre Firma das neue Kirchturmdach der katholischen Kirche in St. Georgen errichtet habe.

      Meine Erinnerung geht weiter zurück. Eine Woche nach Lieferung der Wacholderlatwerge wurde ich sieben Jahre alt. Meine Schwester war mehr als neun. Sie behauptete immer, drei Jahre älter als ich zu sein. Sie zählte nur die Jahreszahlen. 1924 und 1927. In Wirklichkeit war sie nur zwei Jahre und vier Monate älter. Ihre Angeberei ärgerte mich.

      Noch jetzt, oder richtiger, jetzt wieder fühle ich die klebrige Masse in meinem Mund. Ein Kessel „Latwäri“ steht vor mir auf dem Tisch. Wenn man mit dem Messer hineinstach und es wieder herauszog, rann ein langer schwarzer, immer dünner werdender Faden herab. Mutter verstand es, das Messer so rasch zu drehen, dass der größte Teil auf dem Messer blieb und bald nur noch einige zähe Tropfen in den Kessel zurückfielen. Dann rasch das Butterbrot daruntergeschoben, die glänzende Masse darauf verstrichen. Jetzt sah sie goldbraun aus. Auf den Teller mit der Brotscheibe. Mitten durchgeschnitten. Das Brot mussten wir schön waagrecht halten, sonst lief uns der klebrige Saft wie Lava über die Finger. Dann musste man sie ablecken und gleich danach die Hände unter dem kalten Wasserstrahl über dem Schüttstein waschen.

      Warmes Wasser gab es nicht. Höchstens im Winter aus dem Ofenrohr. Da stand immer eine alte Emailkann voll Wasser. Am Morgen durfte jedes einen Viertel daraus in ein Becken und ein Glas gießen, etwas kaltes Wasser dazu, dann den Waschlappen in das Becken getaucht und danach die Zahnbürste ins Glas Mit dem noch warmen, feuchten Waschlappen drückte ich ein Loch in die Eisblumen am Küchenfenster. Oft klebten die Vorhänge an der Scheibe. Manchmal versuchte ich, mit dem Lappen das Gewebe aus dem Eis zu befreien. Ich musste rasch handeln. Sonst gefror das Wasser sogleich wieder. Das feine Gewebe zerriss oft, wenn ich ungeduldig daran zerrte. Ich erinnre mich nicht, dass Mutter je gescholten hat.

      „Iss dein Brot!“ Aus fünfundfünfzig Jahren Entfernung dringt Mutters Stimme an mein Ohr. „Die Wacholderlatwäri ist gesund. Oder möchtest du lieber Lebertran? Na, also!“

      Nein, schlecht war sie nicht, die Wacholderlatwerge. Aber drei Kilogramm? Bis die aufgezehrt waren! Da wurde es Sommer, bis die erste Erdbeerkonfitüre eingekocht war. Da konnte einem der Appetit schon vergehen. Aber jetzt fühle ich, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Auf der Zunge fühle die die Konsistenz wie von flüssigem Honig.

      Ich setze mich wieder auf die Bettkante.

      „Ein Kulturvolk protestiert“ ist der nächste Titel. „Die öffentliche Meinung Englands über den Hitler-Terror“. 34 Seiten. Keine Jahreszahl. Ich beginne zu lesen und stelle fest, dass die Schrift 1933 erschienen sein muss:

       Die antisemitischen Ausschreitungen der letzten paar Wochen sind weit schlimmer, als man sich anfänglich hätte vorstellen können … Diese Exzesse sind … das Ergebnis einer jahrelangen antisemitischen Propaganda der Nazis, einer Mittelstandspartei, die von Bankiers, Industriellen und Geschäftsleuten unterstützt wird. Diese Partei hat ihren Anhängern in Versammlungen, Zeitungen, Büchern und Broschüren den Juden als ekelhaft und böse hingestellt. Die Agitation der Nazis war eine fortwährende Aufreizung zu Pogromen, und der Hauptanstifter ist Adolf Hitler, der deutsche Reichskanzler.

      So zu lesen am 27. März 1933 im „Manchester Guardian“, fünfeinhalb Jahre vor der Reichskristallnacht.

       Jüdische Geschäfte wurden geschlossen und geplündert, jüdische Wohnungen durchsucht und demoliert und Hunderte von Juden misshandelt und beraubt.

       Am Abend des 15. März verhafteten Braunhemden drei Juden im Café New York und brachten sie in einem Auto nach dem SA-Lokal in der Wellnertheater-Straße, wo sie um einige hundert Mark beraubt, mit Gummiknüppeln blutig geschlagen und in halb bewusstlosem Zustand auf die Straße geworfen wurden.

      Und am 20. April 1933: Der braune Terror verschärft sich täglich … Alle Gewerkschafter, bürgerlichen Pazifisten, Sozialisten, Kommunisten und Internationalisten, die irgendwo als Organisatoren, Schriftsteller, Redner … eine Rolle gespielt haben, sind fast in ganz Deutschland durch Entlassung, durch Misshandlung oder durch Verhaftung gefährdet … Gegen die Braunhemden gibt es keinen Schutz … Die Opfer sind völlig wehrlos.

       Angehörige der Sozialdemokratischen Partei werden in der Regel durch dreißig Hiebe mit Gummiknüppel auf den entblößten Rücken, Mitglieder der kommunistischen Partei mit vierzig Hieben bestraft … Der Terror ist so entsetzlich und die Zahl der Opfer so gewaltig, dass er weder in Deutschland noch im Ausland geheim gehalten werden kann. Die vielen Tausende mit wunden Rücken, bandgierten Köpfen, zerschundenen Gesichtern, gebrochenen Gliedern oder Zähnen, die mit Stichwunden, Schusswunden … in Spitälern liegen oder durch die Straßen hinken –, sie alle sind Beweis genug.

      Ich lese nicht weiter. Später. Später. Jetzt muss ich aufräumen. Aber meine Gedanken sind ganz in jener Zeit. Mein Erinnerungsvermögen, was die Politik betrifft, reicht allerdings nicht so weit zurück. 1930 – das ist eine meiner frühesten Erinnerungen – sind wir vom Westen der Stadt, von Straubenzell, ins Krontal, im Kreis Ost gezogen. Meine Patin hat mich und meine Schwester Ruth am frühen Morgen abgeholt. Im Tram – so sagt man in der Schweiz zu der Straßenbahn – saß ich links von meiner Patin, Ruth rechts von ihr. Ich sehe es noch genau. Uns gegenüber die lange Bankreihe unter den Fenstern, vor denen die Häuser vorüberziehen. Als wäre es gestern gewesen. Nicht vor bald sechzig Jahren. Vom Nachbarsgarten aus, wo meine Patin wohnte, im Stockwerk über jenem Jungen, der dreißig Jahre später am Heiligabend einen tränenauslösenden Umschlag in Mutters Briefkasten warf, schauten wir zu, wie die Zügelmänner und auch Vater die Möbel ins Haus trugen. Eben kam Vater vorbei mit dem großen gelben Schaukelpferd, das ich von meinem Götti, dem Schreinermeister in Brunegg, geschenkt bekommen hatte.

      „Ich möchte reiten – gib mir das Gampiross über den Zaun!“

      „Heute nicht, jetzt wird zuerst einmal alles versorgt.“ Und schon war er über die fünf Stufen und durch den Eingang verschwunden. Tränen gab’s keine. Aber die Enttäuschung war groß. Nicht wegen des Gampirosses. Nein. Weil Vater so hart sein konnte. So kannte ich ihn gar nicht. Hatte er in seinem Eifer überhaupt richtig zugehört? Spürte er nicht, was mir dieses Schaukelpferd bedeutete? Gerade jetzt, in dieser neuen, unbekannten Umgebung – etwas Vertrautes, etwas, das allein mir gehörte.

      „Weißt du, Vater hat jetzt keine Zeit“, erklärte mir die Patin. Ich verstand nicht. Er hätte das Gampiross doch nur über den Zaun heben müssen. Doch drei Schritte vor meiner Nase, die ich durch den Maschenzaun steckte, trug er es vorüber.

      Diese erste Erinnerung an meinen Vater hat meine spätere Beziehung zu ihm nicht geprägt. Eigentlich, so scheint mir, ist dies die einzige negative Erinnerung. Freilich, Vater war wortkarg, manchmal etwas mürrisch – zärtlich? Nein, kaum, aber nie bös, nie, dass man sich vor ihm hätte fürchten müssen. Fröhlich kannte ich ihn eigentlich nur später, wenn er etwa mit seinen Kameraden vom Straßenbahner Männerchor zusammen war, oder in den Ferien, wenn wir ein paar Tage mit andern Mitgliedern vom Touristenverein „Die Naturfreunde“ in