„Ein weiser, alter Mann hat mir von diesem Gegenstand erzählt. Er nannte ihn den Stern von Asgood, und also folgerte ich, dass ich ihn hier finden würde. Morgen werde ich mit der Suche beginnen, aber nun will ich erst zu jener Pension gehen, die ihr mit empfohlen habt. Außerdem habe ich seit mehr als einem Tag nichts mehr gegessen außer Beeren, die ich im Wald fand.“ Michael versuchte den Rückzug anzutreten. Es lag ihm nicht allzu viel daran, noch mehr über sich und seine Ziele zu berichten.
Der Händler bemerkte das. Er war kein Spion des Traumlords. Die Besorgnis des Guten Träumers war unbegründet. Hätte dieser gewusst, dass auch die Frau des Tuchhändlers ihrer Träume beraubt war, und wie sehr der Mann darunter, besondere in den Nächten, litt, er hätte diesem gewiss mehr von seinem Vorhaben erzählt.
Der Händler wollte seinen Kunden, der eigentlich gar keiner war, noch nicht so schnell fortlassen. Seit der Zeit, da der Traumlord die Macht im Reich übernommen hatte, war es öde geworden in seinem Laden. Nur selten verirrte sich jemand herein, und unterhalten konnte man sich mit keinem mehr richtig. Seine Frau saß gewöhnlich apathisch in ihrem Schaukelstuhl und strickte. Sie strikte Schals, die so lang waren, dass kein normaler Mensch sie mehr um den Hals wickeln konnte, denn sie bemerkte nie, wenn es Zeit gewesen wäre, die Arbeit an einem zu beenden und den nächsten zu beginnen. Es war auch unwichtig, denn es gab niemanden, dem sie einen Schal hätte schenken wollen. Sie vergrub sich einfach nur in diese monotone Handarbeit, die Ersatz wurde für ihre geraubten Träume.
„Eine letzte Frage noch“, wandte sich der Händler also an Michael. „Seid ihr wirklich sicher, dass sich dieser Stern von Asgood noch in der Stadt befindet? Dass der weise Mann den Gegenstand so nannte, beweist noch lange nicht, dass er sich auch hier findet. Vielleicht ist er nur hier erschaffen worden und nun in einem fernen, unzugänglichen Winkel des Reiches verborgen.“
„Dann hätte ich noch weniger Hoffnung ihn zu finden, als ich es ohnehin schon habe“, war Michaels Antwort. Er hatte sich eine solche Variante des Problems noch nie vorher überlegt, aber wenn er jetzt darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass seine Mission dann endgültig scheitern musste. Etwas zu finden, von dem man weder wusste, was es war, noch annähernd wo es war, wäre unmöglich.
„Wie heißt ihr, Fremder?“, wollte der Händler plötzlich noch wissen. Michael hatte sich schon halb abgewandt.
„Michael, Michael aus Ramos“, antwortete der Gute Träumer. „Ich danke euch noch einmal für eure Hilfe.“
Plötzlich zeigte sich auf den Lippen des Tuchhändlers ein eindeutig freundliches Lächeln. Die Falten in den Mundwinkeln und um die Augen herum verwandelten sich und strahlten plötzlich statt Härte Lebenserfahrung aus. „Ich hoffe, ihr findet, was ihr sucht. Der Traumlord bedrückt schon viel zu lang unser Reich.“
‚Er hat es gewusst‘, dachte Michael erst erschreckt und dann mit einem Anflug von Lachen in der Kehle. Er hatte sich so bemüht, um den heißen Brei zu schleichen, und dann war er so einfach zu durchschauen. Er grüßte den Tuchhändler noch einmal und verließ den Laden.
Es regnete noch immer, doch hatte es aufgehört zu hageln und auch der schlimmste Guss war zu Ende. Nun konnte Michael sich auf den Weg machen. Erst einmal wollte er etwas essen. Dann musste er einen Unterstand für sein Pferd finden, denn wenn eine Stiege zu der Pension führte, konnte er es unmöglich dorthin mitnehmen. Wenn er soweit gekommen war, wollte er sich auf den Weg zu seinem voraussichtlichen Nachtlager für diese und die kommenden Nächte machen.
Michael führte sein Pferd den beschriebenen Weg in Richtung Markt. Er hoffte, dort eine Gaststube oder eine Bäckerei zu finden. Der Hunger nahm langsam Formen an, so dass man ihn als quälend bezeichnen konnte. Es hatte schon mehrfach Zeiten gegeben, in denen die Familie des Guten Träumers nicht gerade üppig gelebt hatte, aber einen Hunger wie seit diesem Morgen hatte Michael noch nie vorher verspürt.
Wie er erwartet hatte, bot der Marktplatz ein buntes Bild. Obwohl die meisten Menschen in der Stadt offenbar ihrer Träume beraubt waren, boten die Händler ihre Waren an, als hätte sich im Reich nichts geändert. Dass dem allerdings nicht so war, mussten vor allem jene spüren, die Waren feilboten, die jenseits des täglichen Lebens ihre Daseinsberechtigung hatten – Schmuck, Duftwässer, künstlerische Schnitzereien, Tuche, Kleider, wertvolle Waffen und Rüstungen. Besser trafen es da jene Händler an, auf deren Tischen sich Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch ein munteres Stelldichein gaben. Einfache Gewänder waren ebenfalls gefragt. Am Stand eines Bierverlegers drängte sich eine Traube vorwiegend männlicher Käufer.
Die Bude eines Märchenerzählers allerdings war verweist. Nicht einmal mehr die Kinder wollten seinen Geschichten lauschen. Vielleicht hatte ihn der Traumlord auch vernichtet.
Auch in den Häusern rings um den Marktplatz hatten sich Händler einquartiert. Da fand man Geldverleiher, mehrere Wirtshäuser, einen Bäcker und einen Tuchhändler. Die Türen dieses Ladens waren mit Brettern vernagelt. Auch er hatte, wie der Märchenerzähler, in der neuen Zeit keinen Platz mehr gefunden.
Der Gute Träumer führte sein Pferd an den Buden des Marktes vorbei. Er strebte einem der Wirtshäuser zu, das mit einem schreiend roten Reklameschild für seine preiswerten Mittagsmahlzeiten warb. Keine Macht der Welt hätte ihn jetzt noch auf einen anderen Gedanken als den an Essen bringen können. In seinen Eingeweiden rollten Felsen wild gegeneinander und polterten laut. Er würde seine Mission besser erfüllen können, wenn er wieder gesättigt war.
Er band sein Pferd vor der Eingangstür des Wirtshauses fest und betrat die gastliche Stätte.
Es war noch nicht die Mittagsstunde. Nur wenige Gäste saßen an den klobigen Eichentischen. Die meisten waren in grobe Leinenkleidung gehüllt, die Kleider der einfachen Leute. Sie starrten in halbvolle Bier- und Schnapsgläser und wandten sich nur flüchtig nach dem neuen Gast um, als dieser eintrat. Einige bewegten sich gar nicht. Wie Lockvögel auf dem Teich verharrten sie reglos in ihrer Stellung.
Nur ein einziger Gast, der an einem entfernten Tisch in einer Nische saß, wollte nicht in dieses Bild passen. Seine Augen blitzten auf, als er Michael registrierte. Dann riss er den Kopf ein wenig zu heftig herum, und starrte auf das Bild eines röhrenden Hirsches das seinem Platz gegenüber hing. Michael war allerdings viel zu hungrig, um diesem Mann die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm möglicher Weise zukam.
Der Mann in der Nische war nur wenig älter als der Gute Träumer. Er hatte ein strenges, aber angenehmes Gesicht. In besseren Zeiten wäre er sicherlich ein berühmt-berüchtigter Frauenheld geworden, ein Mann den die Ehemänner verfluchten und die Frauen herbeisehnten, wenn sie sich in unruhigen Träumen von der einen zur anderen Seite des Bettes wälzten. Der gut gepflegte Oberlippenbart, den der Mann trug, hätte seine Wirkung auf das andere Geschlecht noch verstärkt. Außerdem hatte er Augen von der Tiefe und dem Blau des endlosen Ozeans im Süden des Reiches.
Er hatte die goldbraune Haut und den seltsam langgezogenen Akzent der Menschen, die auf der grünen Insel in eben diesem Ozean wohnten.
Sein Haar war pechschwarz. Er trug es in einer Weise hochgesteckt, wie es hier in Asgood nur bei den Frauen üblich war. Wenn er es löste, fiel es ihm gewiss bis auf die Schultern oder weiter hinab.
In einer Scheide am Gürtel seiner enggeschnittenen Hose trug er einen fein ziselierten Degen, eine Waffe von tödlicher Eleganz. Wer dem Mann in die Augen blickte, wusste, er hatte diesen Degen schon mehrfach benutzt, doch nie um Kaninchen zu töten.
Der Mann saß mit dem Rücken zu Michael, dem Guten Träumer, aber aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er diesen genau. Michael, der gerade eine große Portion Fleisch und Gemüse bestellte, bemerkte es nicht. Vielleicht hätte er es nicht einmal bemerkt, wenn er weniger mit dem Gedenken an ein gebratenes Schwein beschäftigt gewesen wäre. Der Mann in der Nische verstand es sehr gut zu beobachten, ohne bemerkt zu werden. Er würde seinen Kumpanen Bericht erstatten können, dass ihr Opfer in der Stadt eingetroffen war. Jetzt galt es nur noch, ihn im Auge zu behalten, bis sie ihre Arbeit auftragsgemäß erledigen konnten.
Als