»So weit sind wir noch nicht«, antwortete Zeidler. »Immerhin bin ich ganz schön stolz darauf, dass wir die Mordwaffe herausgefunden haben.«
»Und wie habt ihr das so schnell hinbekommen?«, hakte Melanie nach.
»Nun, das war nicht so einfach«, meldete sich Schurig zu Wort. »Wir hatten ja nur die Kugel und die Hülse, also das Kaliber, ein paar Kerben in der Patrone, die Einstanzungen in der Hülse und sonst eigentlich nichts. 6,35 mm ist nicht gerade ein weitläufiges Pistolenkaliber.«
»Hätte es nicht denn auch ein Revolver sein können, und die Hülse wurde nur zur Tarnung auf den Boden geworfen?«, fragte Melanie Josef Schurig.
»Das haben wir schon öfter gehabt, dass der Täter die Hülse aus der Trommel nimmt und neben die Leiche wirft, um den Eindruck einer Automatik als Tatwaffe zu hinterlassen«, fügte Alois hinzu.
»Nein, die Browning 6,35 mm wurde fast ausschließlich nur für den Pistolenmarkt entwickelt. Die Patrone wurde zwar universell konstruiert und verfügt über eine Halbrand-Hülse, was die Verwendung in Pistolen sowie Revolvern ermöglicht. Doch als Halbrand-Revolverpatrone konnte sie sich nicht durchsetzen. Die Einführung der Patrone 6,35 mm Browning führte weltweit dazu, dass nahezu alle Waffenhersteller ebenfalls diese kleinen Taschenpistolen konstruierten beziehungsweise einige mehr oder minder der Entwicklung von Browning nachempfanden. Die Nachfrage nach diesen kleinen Waffen war entsprechend groß. So auch in der Tschechoslowakei, einem der führenden Waffenherstellungsländer Europas. Die CZ, die ?eská zbrojovka, zu deutsch Tschechische Waffenfabrik, ist ein solcher tschechischer Industriebetrieb. Er entstand nach dem Ersten Weltkrieg als Hersteller von Feuerwaffen und ist vorwiegend für Selbstladepistolen, Werkzeugmaschinen, Motorräder und Motorroller der Marke CZ bekannt geworden. Hauptabnehmer neben der Bundesrepublik Deutschland war die ehemalige DDR: vor allem Waffen und Motorräder.«
»Stimmt, ich hatte auch mal eine CZ. Ein schnelles Motorrad. Schneller wie unsere Schwalbe oder eine MZ aus Zschopau«, sagte Melanie.
»Darf ich weiter machen«, fragte Schurig bissig.
»Oh ja, natürlich, Entschuldigung, die Vergangenheit. Übrigens so eine CZ Pistole hatte ich auch mal. In der GST.«
»GST?«, wiederholte Alois die letzten drei Buchstaben langsam.
»Ja in der GST. 1Die Gesellschaft für Sport und Technik war eine Organisation in der DDR. Sie sollte offiziell vor allem der gemeinschaftlichen Freizeitgestaltung technisch und sportlich interessierter Jugendlicher dienen, die dazu erforderlichen technischen Mittel, wie Motorräder, Flugzeuge und Funkgeräte, zur Verfügung stellen und technische Sportarten und dazugehörige Sportförderung und Wettkämpfe, wie Motor- und Schießsportarten pflegen und veranstalten. Sie trug damit auch zur Militarisierung der Gesellschaft der DDR bei, indem sie unter anderem die gesetzlich vorgeschriebene vormilitärische Ausbildung zusammen mit der Nationalen Volksarmee an Schulen, Universitäten und in den Betrieben durchführte«, klärte Melanie ihre Kollegen auf.
»Und da hast du mitgemacht?«
»Warum denn nicht. Da haben fast alle mitgemacht. Ich habe dort meine erste paramilitärische Ausbildung erhalten. Ich durfte schießen, Motorrad fahren und einige sportliche Wettkämpfe bestreiten. Uns Heranwachsenden sollte durch die GST die Möglichkeit gegeben werden, unsere Freizeit sinnvoll zu gestalten. Ältere, erfahrene Mitglieder sollten uns Unerfahrene unter ihre Obhut nehmen und unterstützen. Und zunehmend rückte der Wehrsport in den Vordergrund.«
»Und das schon mit vierzehn?«, fragte Rainer Zeidler erstaunt.
Melanie lächelte ihn liebevoll an. »Du bist süß Rainer. Nein ich war schon über 16. Ich bin doch schon etwas älter, auch wenn ich nicht so aussehe. Danke Rainer. Aber du hast Recht, eingetreten bin ich mit 14. Das war das Mindesteintrittsalter. Scharf geschossen habe ich aber etwas später.«
»Kann ich vielleicht doch erst einmal weitermachen?«, meldete sich Schurig zaghaft wieder zu Wort.
»Ach Josef, sorry, klar doch, mach bitte weiter. Also eine CZ Kaliber 6,35. Da warst du stehen geblieben.«
»Nun gut. Die Kugel haben wir sichergestellt und mit Daten des BKA verglichen. Und dann sind wir auf die CZ Modell Z gekommen. Eine kleine handliche Selbstladepistole, die in jede Manteltasche passt und nur aus nächster Entfernung zielsicher und tödlich ist. Wie in unserem Fall durch einen aufgesetzten Brustschuss.«
»Ich habe noch ein, zwei Fragen, Josef«, unterbrach Alois seinen Kollegen. »Erstens, der Ermordete muss den Täter doch erkannt haben? Wie kommt es sonst zu diesem aufgesetzten Schuss? Zweitens, der Täter oder die Täterin kommen aus dem Ostblock oder sogar aus der ehemaligen DDR, wegen der Pistole. Sehe ich das richtig?«
»Das ist etwas weit hergeholt. Kennen ja, das kann sein. Die Pistole ist aber kein Garant für die Herkunft des Schützen. Nach dem Fall der Mauer tauchten Waffen aus ehemaligen Armee- oder Polizeibeständen überall in Europa auf. Wir wissen zwar den Hersteller der Waffe. Aber eine Historie haben wir nicht. Die Waffe ist vorher nie aufgetaucht. Nur die Charakteristika der Kugel, die Schlieren und Schleifen, lassen einen Hinweis auf eine mögliche Waffe ableiten. Eine CZ. Hundertprozentig sicher sind wir da nicht. Ohne die Waffe können wir alles nur erst mal ahnen.«
»Danke Josef. Habt ihr etwas über den Toten herausfinden können?«
»Ja. Der Tote ist Sascha Krüger. So heißt sein angeblicher Name laut Aussage des Oberbürgermeisters. Klingt Bayerisch, aber auch nicht. Sascha ist nicht gerade ein bayerischer Name. Vorstrafen gibt es keine. Gemeldet ist er hier in Freising in der Kochbäckergasse 19. Da sollten wir uns einmal umschauen. Keine Einträge im Internet. Verwandtschaft wissen wir nicht. Es gibt einen Wagen auf seinen Namen. Einen Seat Ibiza. Keine Punkte in Flensburg und keine Eintragungen in der Schufa. Mehr haben wir bis jetzt noch nicht über ihn heraus gefunden.«
»Das ist nicht viel. Vielleicht hat unsere liebe Frau Doktor mehr herausbekommen können. Es wird langsam Zeit. Sie hat uns gegen Mitternacht in die Pathologie bestellt. Ich möchte dass du mitkommst, Rainer. Wir sollten langsam gehen. Und morgen früh treffen wir uns um 10 Uhr in der Kochbäckergasse. Josef, du weißt wo das ist?«
»Ja, das weiß ich.«
»Gut dann bis morgen. Du kommst dann morgen zu uns dazu. Und wir anderen fahren jetzt rüber ins Klinikum. Rainer? Melanie?«
Frau Dr. Nagel erwartete die Polizeibeamten bereits. Sie trug einen hellgrünen Kittel und dünne Plastikhandschuhe an den Händen. Vor ihr auf einer Stahlbahre lag der Leichnam des Mannes unter einem weißen Leinentuch. Auf einem Beistelltisch hatte sie fein säuberlich die Kleidung des Toten ausgebreitet: eine rote Hose, ein weißes Hemd mit hellroten Fleck, eine rote Jacke, eine Zipfelmütze in der gleichen Farbe, Unterwäsche, Strümpfe, Wanderschuhe und ein Schlüsselbund. Und neben allem lag ein weißer Bart. Unter dem Tisch befanden sich der Leinensack und die Rute, die an einem Wanderstock befestigt war.
Es sah für die Ankommenden recht seltsam und skurril aus, wie der Weihnachtsmann, auch wenn es in diesem Fall ja nur ein Schauspieler war, nackt und seiner Kleidung beraubt auf einer Edelstahlwanne lag, ganz ohne den besinnlichen Charme dieses heiligen Mannes.
Melanie, Rainer und Alois standen beklommen vor dem Leichnam. Frau Dr. Nagel gab ihnen etwas Zeit, anzukommen, bevor sie dienstbeflissen mit ihrem medizinischen Bericht begann.
»Es ist auf jeden Fall ein sehr besonderer Fall. Nicht nur, dass jemanden diesen als Weihnachtsmann verkleideten Mann aus nächster Nähe erschossen hat, nein, der Täter muss den Mann auch sehr gut gekannt haben, denn der Tote hat eine Eigenschaft, die es maximal nur 5000 Mal in Deutschland gibt. Wenn überhaupt so viel. Aber das sollen Sie möglichst selbst herausfinden«
»Sie machen es aber spannend heute«, knurrte Alois.
»Ja, das mache ich.« Sie zog das Leintuch vom Gesicht des Toten bis hinab zu seinem Bauchnabel.
»Was fällt Ihnen auf?«, fragte sie die drei Beamten.
Die Angesprochenen starrten