Axel Birkmann
Der Mann, der den Weihnachtsmann erschoss
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Inhaltsverzeichnis
Broken Wings, gebrochene Flügel
Nachwort und Quellenverzeichnis
Last Christmas
Samstagnachmittag des Ersten Adventswochenendes in der Domstadt Freising.
»I'm dreaming of a White Christmas. With every Christmas card I write«, tönte es leise aus den Lautsprechern des Supermarktes in Freising-Lerchenfeld. Alois Kreithmeier schob missmutig den Einkaufswagen durch die Gänge. Er hatte die ersten Dutzend Quadratmeter Verkaufsfläche unbeschadet hinter sich gelassen, sich mühevoll durch Dutzende von in rote Metallfolie gewickelte Weihnachtsmänner, Tonnen von Spekulatiuskeksen und Dominosteinen, Vanillekipferln und Christstollen gequält, nur um ein paar Rollen Toilettenpapier und Waschmittel für schwarze und bunte Wäsche zu kaufen. Und das an seinem freien Tag, an einem Samstag. Es nervte ihn kolossal.
Seit Wochen hatte er zusehen müssen, wie in fast jedem Lebensmittelladen Türme von Weihnachtsartikeln aufgebaut worden waren und aus den Schaufenstern in den Läden und Boutiquen rund um die Freisinger Innenstadt kontinuierlich alles Bunte verschwand, alles bis auf die Farben Rot, Gold und Silber.
Die fünfte Jahreszeit war eingeläutet: Das Weihnachtsgeschäft. Ohne das viele der Einzelhandelsläden nicht überleben konnten. Die Umsätze stiegen von Tag zu Tag in den letzten Wochen im Jahr. Manche Branchen machten an einem langen Samstag im Dezember so viel Umsatz wie sonst in einem ganzen Monat. Und immer früher wurden die Weihnachtsartikel den Kunden präsentiert. Ende August tauchten die ersten Lebkuchen in den einschlägigen Supermarktketten auf. Nach dem Motto, »der frühe Vogel frisst den Wurm«, zielte der Handel darauf, den Konsumenten immer früher das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Alois hasste das. Nicht dass er grundsätzlich etwas gegen Weihnachten und seinen ansonsten doch recht friedlichen Festcharakter hatte, aber der Konsumterror und die fast unvermeidliche Beschallung aller Läden, einschließlich der Getränke- und Drogeriemärkte, mit Weihnachtsliedern, rührten an seinen Nerven.
Zu allem kam noch hinzu, dass jeder bekannte oder unbekannte Gesangsstar genau in dieser Zeit sich noch einen Namen mit dem Einsingen von schnulzigen Weihnachtsliedern machen wollte. Im Radio lief nur noch dieses meist nur aus zwei oder drei Akkorden bestehende Gejaule. Was wäre Weihnachten auch nur ohne Musik, dachte Alois grimmig nach, als er den Einkaufswagen Richtung Haushaltsartikel schob.
Spätestens Ende November wurden die Weihnachtsklassiker herausgeholt und im Radio oder zu Hause rauf und runter gespielt. Für viele gehörten diese Christmas Songs einfach zu Weihnachten. Für andere waren diese Lieder ein Grund, schnellstens den Ort zu wechseln. Aber wo sollte Alois auch hin? Fliehen? Dem Weihnachtstrubel entkommen? Melanie ganz alleine lassen? Seinem Freising den Rücken zukehren, wenigstens für ein paar Tage? Er hatte schon darüber nachgedacht. Einmal über Weihnachten und Neujahr hinweg in die Sonne fliegen. Nachgedacht ja, überlegte er, aber getan hatte er es noch nie.
Im Weihnachtsgeschäft feierten die bösen Buben in Freising wohl selbst friedvoll das Fest, oder sie waren in den Urlaub in den Süden geflogen und kamen Anfang Januar erst wieder zurück, um dann erneut ihrem kriminellen Treiben nachzugehen. Das Einzige was in dieser festlichen Zeit anstieg waren die Laden- und die Taschendiebstähle. Von kriminellen Machenschaften konnte man hier wohl nicht direkt reden. Bei den Ladendiebstählen wurden eher gestresste Hausfrauen, unbeaufsichtigte Schüler und betagte Rentner erwischt. Und die Taschendiebe waren meistens Kleinkriminelle, die auf dem Revier seit Jahren bestens bekannt waren oder Hartz Vier Empfänger, die so ihr Weihnachtsgeld aufbessern wollten. Die schweren Jungs hatten Pause oder waren im Urlaub.
Während der Feiertage und auch danach stieg die Anzahl der Christbaumbrände, eher Fälle für die Feuerwehr von Freising, aber es stieg leider auch die tätliche Gewalt in den Familien. Männern, die ihre Kinder und Frauen schlugen, oder Frauen, die mit einer Bratpfanne das Verhalten ihres Gemahls korrigieren wollten. Und letztendlich überschlug sich nach dem Fest die Scheidungsrate.
Dies hatte ihm ein befreundeter Richter am hiesigen Amtsgericht einmal zugeflüstert.
»Erschreckend«, murmelte Alois leise auf dem Weg zur Kasse. »Es war einfach erschreckend. Das Fest des Friedens sollte Familien zusammenbringen und nicht voneinander entfernen.«
Seit dem letzten Kapitalverbrechen, dem Mord an einem Festzeltbesitzer während des Freisinger Volksfestes, war in und um Freising herum, nichts Aufregendes passiert. Der Herbst war im Sauseschritt an ihnen vorbei gerannt. Und jetzt war schon der Samstag vor dem Ersten Advent. Es würde ein warmes und sonniges Weihnachtsfest werden. Kein Schnee war in Aussicht. Temperaturen immer noch weit über Null Grad.
»Auf das Wetter und die vier Jahreszeiten kann man sich auch nicht mehr verlassen«, grummelte Alois vor sich hin, als er in den blauen Himmel blickte, während er an seinem Wagen den Kofferraum öffnete,