Jakobs kleiner Koffer. Ute Janas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ute Janas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847644002
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Entwicklungen innerhalb der Familie. Zu der Hoch­zeit von Philipp und Daisy hatten sich mindestens 20 Gäste vor der Kirche eingefunden und mussten zwangsläufig zum Mittagessen eingeladen werden. Für ihren Vater war diese Betriebsamkeit auch immer ein Gräuel gewesen, und er hatte sich seine Arbeitsräume im Dachgeschoss des linken Giebels eingerichtet, das man nur über eine kleine Treppe erreichen konnte, die von seinem Schlafzimmer nach oben führte. Dorthin hatte sich auch tatsächlich noch kein Gast verirrt und die Mitarbeiter des Hauses suchten seine Gegenwart ohnehin nicht, da sie von ihm keine Entscheidung ihre Arbeit betreffend erwarten konnten.

      Die Eltern sind schon ein seltsames Pärchen, dachte Johanna, als sie die Treppe hinaufging.

      Da war ihr Vater, inzwischen 69 Jahre alt und emeritiert, früher ein gefragter Wissenschaftler und langjähriger Professor an verschiedenen Universitäten. Seine Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Meeresbiologie waren von einiger Bedeutung gewesen, und so erfreute er sich gerade in der heutigen Zeit mit ihrem sich wandelnden Umweltverständnis immer noch einer großen Beliebtheit. Selbst jetzt wurde er noch hin und wieder als Gastredner zu Kongressen eingeladen. Sie hatte ihn als freundlichen, gelassenen und humorvollen Vater in Erinnerung, der allerdings selten zu Hause war. Ihre Mutter hatte sich schon frühzeitig ganz auf die Leitung und den Ausbau des Hotels konzentriert, so dass auch sie eigentlich kaum für ihre Kinder da war. Auch heute war Lotte Oldenburg allerdings noch immer Mittelpunkt und Herz des Hotels mit seinen fast 40 Angestellten, inzwischen unterstützt von Philipp, der ihr aber nach Johannas Meinung nicht das Wasser reichen konnte, was die Führung des Hotels betraf.

      Johanna und ihre Geschwister waren in ihrer Kindheit meist der Obhut von Gerta überlassen gewesen, der früheren Köchin, die dann zum Kinderrmädchen avancierte und bis zu ihrem Tod noch in einer Dachkammer des Hotels gelebt hatte. So hatten die Eltern ihr Leben geführt, der Vater meist in wissenschaftlichen Sphären, gelassen und freund­lich, die Mutter, mit beiden Beinen auf der Erde, aber auch immer hektisch und genervt. Und doch lebten sie schon 37 Jahre zusammen und Johanna spürte jetzt, als sie die beiden zusammen sah, dass zwischen ihnen mehr sein musste, als sie je mitgekriegt hatte.

      Ihre Mutter lag mit bleichem Gesicht auf dem Sofa und ihr Vater hatte sich einen Sessel herangezogen, damit er ihre Hand halten konnte. Bei Johannas Eintreten wandte er den Kopf und nickte ihr liebevoll zu.

      „Hallo Hanni, das ging ja schnell, schön, dass du da bist.“

      Johanna ging zu ihren Eltern und begrüßte sie mit einem Kuss. Lotte richtete sich auf und ordnete ihr Haar. Sie war offensichtlich bestrebt, die bevorstehende Unterredung in würdigem Zustand hinter sich zu bringen.

      „Setz dich, Kind“, sagte sie, „ möchtest du einen Kaffee?”

      Johanna verneinte. „Ich will keinen Kaffee, ich will Aufklärung über unser Familiengeheimnis.”

      „Ruf mal Philipp, damit wir das alles gemeinsam besprechen können”, bat ihr Vater.

      Nachdem Philipp und Daisy aufgetaucht waren, setzten sich die Kinder den Tisch. Lotte Oldenburg ergriff das Wort:

      „Es gibt eigentlich nicht mehr zu sagen, als Papa euch schon erzählt hat. Christina Heimberg, spätere Brandwell, ist meine richtige Mutter. Als ich vier Jahre alt war, ist sie nach England zu einem Major Brandwell gegangen und hat Vater und mich verlassen. Später hat sie Brandwell geheiratet, und mein Vater hat mit Paula-Anna, die ihr als Großmutter kennengelernt habt, und die für mich wie eine Mutter war, glücklicherweise auch eine gute neue Frau gefunden. Das ist alles.“ Lotte ließ sich erschöpft wieder auf das Sofa sinken. Johanna fand ihren Auftritt ein wenig theatralisch und ihre Ausführungen ein bisschen dürftig und hakte nach.

      „Aber warum wurde denn diese Geschichte bis heute verschwiegen, warum durften wir das denn nicht wissen?“, fragte sie mit Unverständnis.

      Jetzt antwortete ihr Vater: „Das lag an eurem Großvater, für ihn war die ganze Geschichte ein fürchterlicher Schandfleck in der Familiengeschichte, und er bestand darauf, dass sie nie mehr erwähnt wurde. Für eure Mutter war dies auch nach seinem Tod eine Ver­pflichtung.“

      Diese Erklärung passte in ihre Erinnerung an den Großvater, aber Johanna fand es trotzdem komisch, dass ihre Mutter sich auch nach Opas Tod an seine Anweisungen gehalten hatte. Sie war sich ganz sicher, dass sie selbst anders gehandelt hätte.

      Wie unterschiedlich Mama und ich sind, dachte sie mit einem kleinen Bedauern. Was für ein Mensch mochte wohl ihre richtige Großmutter gewesen sein? Sie dachte an den Anlass für das heutige Gespräch, und empfand plötzlich Trauer über den Tod einer Frau, von deren Existenz sie bis heute nichts gewusst hatte. Mit Paula-Anna, die sie als Großmutter kennengelernt hatte, verband sie keine schönen Erinnerungen. Sie war streng und unnahbar gewesen, furchtbar dick, immer in schwarze Gewänder gehüllt, und sie duldete keine Kritik an ihrem Mann, den sie abgöttisch liebte. Sie empfand plötzlich Ärger über die Unbarmherzigkeit ihrer Familie, die es verhindert hatte, dass sie Christina zu Lebzeiten kennengelernt hatte.

      „Bei allem Respekt vor Großvaters Gefühlen“, sagte sie deshalb kühl, „so etwas hättet ihr uns nicht verheimlichen dürfen. Eine Großmutter ist kein Privateigentum, und wir haben ein Recht darauf, unsere Wurzeln kennenzulernen. Diese Chance habt ihr uns genommen, und das nehme ich euch übel.“

      Ihre Eltern schwiegen betroffen, schließlich brach ihr Vater das Schweigen mit der Frage:

      „Wie hast du denn eigentlich von Christina erfahren?”

      Johanna berichtet von dem Brief und dessen Inhalt. Einen Moment herrschte erneutes Schweigen. Dann sagte ihre Mutter, etwas hilflos klingend: „Ich hätte vielleicht doch anders auf ihren Brief reagieren sollen.“

      „Welchen Brief?“, wollte Johanna wissen.

      „Sie hat mir vor vielen Jahren einmal geschrieben und um ein Treffen gebeten, ich habe das allerdings abgelehnt“, erwiderte ihre Mutter.

      „Das finde ich ganz richtig“, mischte sich erstmals Philipp ein.

      „Schleimscheißer“, zischte ihm Johanna zu.

      „Aber Johanna“, regte sich Daisy auf. „Wie redest du denn mit Philipp?”

      Lotte schluchzte. Da klingelte das Telefon.

      Alfred nahm den Hörer ab und hörte die muntere Stimme seines jüngsten Sohnes am anderen Ende.

      „Hallo Daddy, ich habe hier so eine verwirrende Message von Hanni gefunden, was ist denn eigentlich bei euch los?“

      „Deine Mutter liegt auf dem Sofa und weint, Hanni beleidigt ihren Bruder und Daisy regt sich auf“, versetzte sein Vater trocken.

      „Ach, dann ist ja alles wie immer“, meinte Martin und fuhr dann - wie beiläufig - fort:

      „Und was gibt‘s sonst Neues?”

       Alfred vernahm hinter der lockeren Stimme seines Sohnes einen besorgten Unterton und sagte:

      „Wir haben deinen beiden Geschwistern soeben gebeichtet, dass Paula-Anna nicht eure richtige Großmutter ist, sondern nur die zweite Frau eures Großvaters. Lottes richtige Mutter ist eine andere Frau, eine gewisse Christina Brandwell, die offensichtlich kürzlich in England verstorben ist und Hanni etwas vererbt hat.“

      Martin pfiff durch die Zähne und fragte:

      „Wie haben denn Hanni und Philipp darauf reagiert?“

      „Hanni ist sauer und Philipp ist es offensichtlich gleichgültig. Was sagst du denn dazu, mein Sohn?“

      „Ja“, begann Martin langsam. „Die Sache hat natürlich zwei Seiten. Zum einen bin ich ausge­sprochen erleichtert, dass in meinen Adern kein Blut dieser grässlichen Paula-Anna kreisen kann. Zum anderen aber möchte ich mal vorsichtig formulieren, dass Eltern, die ihren Kindern so etwas über Jahrzehnte verschweigen, eigentlich auf ihre Zurechnungsfähigkeit untersucht werden müssten.“

      „Da hast du sicher nicht ganz unrecht, mein Sohn, aber die Geschichte ist viel komplizierter, als sie sich jetzt anhört.“

      „Ja