Jakobs kleiner Koffer. Ute Janas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ute Janas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847644002
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das sie mit ihrem jüngeren Bruder Martin be­wohnte. Es hatte ihren ver­storbenen Großeltern, den Eltern ihres Vaters, gehört. Nach deren Tod hatte ihr Vater vor der Entscheidung gestanden, das Haus zu verkaufen. Irgendwie hatte er sich nicht entschließen können, sich von dem Haus seiner Kindheit zu trennen und die Entscheidung so lange hinausgezögert, bis seine Tochter begann, in der Stadt zu studieren. Da gab es dann plötzlich einen Grund, das Haus zu behalten, und als ein Jahr später der jüngere Sohn Martin ebenfalls ein Studium begann und zu Johanna in das Haus zog, wurde über einen Verkauf nicht mehr geredet. Die beiden hatten sich das Anwesen im Laufe der Jahre stückweise nach ihren Bedürfnissen umgebaut und hingen sehr daran. Manchmal fragte sich Johanna, ob sie wohl mit der betonten Gemütlichkeit ihres Umfeldes das Fehlen von Geborgenheit in ihrer gemeinsamen Kindheit zu kompensieren versuchten.

      Das Leben mit Martin funktionierte sehr gut, sie kamen sich selten in die Quere. Sie lebten zusammen und doch wieder nicht, sie waren sich nahe, ohne sich zu bedrängen und respektierten streng die Privatsphäre des jeweils anderen. So hatten sie es schon als Kinder praktiziert, und so hielten sie es auch jetzt.

      Johanna parkte ihren Wagen auf dem Kiesplatz vor dem Haus und schloss die Tür auf. Im Flur hinter dem Briefschlitz lag eine Menge Post, die sie erst einmal auf die Anrichte im Flur legte, weil sie ihren Kater begrüßen musste, der ihr freudig um die Beine schnurrte. Sie kraulte Othello ein bisschen und ging dann in die Küche, um die Kaffeemaschine einzuschalten. Das ganze Erdgeschoß bestand - abgesehen von einer kleinen Toilette - eigentlich nur aus einem einzigen L-förmigen Raum. Martin und sie hatten die alte Wand zwischen Küche und Wohnraum herausnehmen lassen und den früheren Eindruck von Dunkelheit und Enge beseitigt. Das Wohnzimmer war auf der Rückseite völlig verglast und eine große Schiebe­tür führte auf eine großzügige, mit roten Terra­kottafliesen gepflasterte Terrasse, die im Schatten eines alten Kastanienbaums lag. Daneben bestand der Garten eigentlich nur noch aus ein paar Blumenbeeten, die Martin mit Geschick so angelegt hatte, dass es dort fast das ganze Jahr blühte.

      Johanna öffnete die Schiebetür und ließ die warme Frühlingsluft in die Wohnung. In diesem Jahr war der Mai wieder sehr mild, und die ersten Blumen an der Terrasse verströmten bereits ihren Duft. Der Lavendel, eine Urlaubserinnerung aus der Toskana, hatte sich ungewöhnlich schnell ausgebreitet und sorgte im Sommer mit seinem unverwechselbaren Geruch für ein fast südliches Flair.

      Johanna mochte den Süden, die kleinen Städte und Dörfer in der Emiglia Romana oder in Südfrankreich, in denen man stundenlang auf einem schattigen Marktplatz sitzen konnte, Wein trinken und dazu würzigen Käse essen. Früher war sie in jedem Jahr zu einem anderen südlichen Ziel gefahren, manchmal mit Freunden, manchmal auch allein und oft mit Martin, den auch das Fernweh und die Sehnsucht nach Wärme gefangen hielt, und der so oft nach Süden reiste, wie ihm sein Beruf als Journalist die Möglichkeit dazu gab.

      Während die Kaffeemaschine lief, ging sie in die erste Etage. Hier war ihr Reich. Sie hatte sich in zwei kleinen Räumen Schlaf- und Arbeitszimmer eingerichtet. Von dem ehemals übergroßen Bade­zimmer hatte sie eine Ecke abgetrennt und sich den besonderen Luxus eines kleinen Ankleidezimmers gegönnt. Hier oben fühlte sie sich so heimisch, wie eine Schnecke in ihrem Gehäuse, und sie war gar nicht erfreut, wenn jemand sie hier besuchte. Mit Martin, der das Dachgeschoß bewohnte, hatte sie ein Abkommen, wonach sie fast ausschließlich in Wohnzimmer oder Küche aufeinandertrafen - sie hatten sogar eine hausinterne Telefonleitung installiert, um miteinander sprechen zu können, ohne in des anderen Intimsphäre eindringen zu müssen.

      Johanna schälte sich aus ihrem Kostüm und warf ihre Pumps in die Ecke. Wie immer hatte sie dabei das Gefühl, aus ihrer offiziellen Haut zu schlüpfen und eine andere, private und viel intimere Gestalt anzunehmen. Es war, als verjünge sie sich jedesmal, wenn sie ihr berufliches Outfit ablegte und in Jeans und Pulli schlüpfte.

      Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging sie hinunter, holte ihren Kaffee aus der Küche und trat mit der Post auf die Terrasse. Dort legte sie sich in einen Liegestuhl und schaute in den Kas­tanienbaum, der sich wie ein Dach über ihr wölbte. Sie genoß diesen Anblick und den Duft der Blumen, die hier in diesem kleinen, geschützten Paradies immer ein wenig eher blühten, als woanders. ‚Welch ein schöner Tag‘, dachte sie und fand es sehr erholsam, dass Ludwig für eine Woche in Hannover war.

      Johanna nahm die Post vom Tablett. Zwei Reklamesendungen legte sie gleich ungeöffnet zur Seite, es folgte ein an Martin adressierter Brief, der leicht nach einem Parfum duftete und keinen Absender trug. „Natürlich nicht“, dachte Johanna belustigt. Der rasante Wechsel von Freundinnen war einer der wenigen Störfaktoren in der entspannten Beziehung zwischen ihr und ihrem Bruder. Immer, wenn sie sich gerade an eine Martina, Marion oder Petra gewöhnt hatte, war diese schon wieder out, und sie musste sich auf eine neue Flamme einstellen.

      Johanna legte den duftenden Brief zur Seite und wandte sich dem nächsten zu. Er war an sie gerichtet und recht schwer, sie wog ihn in der Hand und stellte mit Erstaunen fest, dass er aus England kam, aus Plymouth, und zwar - wie der Absender verriet - von einer Anwaltssocietät St.Kendall, St.Kendall & Sons.

      Neugierig riss sie ihn auf und las:

       Sehr geehrte Frau Oldenburg,

       wir legitimieren uns als Anwälte der verstorbenen Mrs. Christina Brandwell. Nach dem Wunsch der Erb­lasserin setzen wir Sie darüber in Kenntnis, dass Sie in ihrem Testament bedacht sind.

       Wir laden Sie weiterhin ein, sich auf Brandwell Manor einzufinden, um an der Testamentseröffnung am 15ten dieses Monats teilzunehmen. Mrs.Brandwell hat uns ausdrücklich gebeten, Ihnen nahezulegen, schon einige Tage vorher anzureisen, damit Sie Gelegenheit haben, sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen.

       Wir haben uns erlaubt, ein Flugticket beizulegen und bitten Sie, uns über Ihre Ankunft in Plymouth in Kenntnis zu setzen, damit wir veranlassen können, dass Sie abgeholt werden.

       Mit Hochachtung verbleiben wir

       gez. St. Kendall, Barrister & Solicitor

      Johanna ließ den Brief sinken. Sie konnte damit überhaupt nichts anfangen. Wer um Himmels willen war Christina Brandwell? Sie kramte in ihrem Gedächtnis, fand aber keinen Anhaltspunkt. Sie kannte ihres Wissens niemanden in England und der Name sagte ihr auch nichts. Sie musste ihre Mutter fragen, die kannte jeden. Sie schaute auf die Uhr - halb zwei, jetzt würde die Familie noch beim Mittagessen sitzen. Im Lerchenhof war alles immer strikt organisiert, in einem großen Hotelbetrieb war das wahrscheinlich auch gar nicht anders möglich.

      Johanna wählte die Nummer und ließ sich von Carla an der Rezeption mit der Wohnung ihrer Eltern verbinden.

      „Hallo Mama“, sagte sie, als ihre Mutter sich meldete.

      „Ach, Johanna, hast du etwas Wichtiges, du weißt, wir essen gerade”, hörte sie ihre Mutter so antworten, wie sie es erwartet hatte.

      „Ich störe nicht lange, ich wollte dich nur schnell fragen, ob du eine gewisse Christina Brandwell kennst?”

      Am anderen Ende entstand eine unerwartete Pause und Johanna vermutete, ihre Mutter dächte über ihre Frage nach. Umso erstaunter war sie, als diese nach einigen Sekunden fragte:

      „Wie kommst du darauf?“

      Täuschte sie sich, oder klang die Stimme ihrer Mutter heller und vielleicht auch aufgeregter als sonst? Ihrem Vater musste das wohl auch aufgefallen sein, denn Johanna hörte ihn im Hintergrund besorgt fragen:

      „Was ist denn Liebes, du bist ja ganz blass?“

      „Johanna fragt nach Christina Brandwell”, hörte sie ihre Mutter tonlos sagen. Wieder entstand eine Pause, dann sagte ihr Vater:

      „Dann sag´ es ihr endlich, sag´ es allen dreien, ich empfehle dir das schon seit Jahren.”

      „Du hast gut reden, um deine Familie geht es ja nicht“, jetzt klang ihre Mutter regelrecht hysterisch. Johanna hielt den Hörer ein wenig von ihrem Ohr weg und betrachtete ihn, als ob er ihr das Rätsel auf der anderen Seite enthüllen könnte.

      „Haallooo“,