Gegen den Koloss. Achim Balters. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Achim Balters
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742752642
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Heute nutzen sie ihr eigenes, sich ständig erweiterndes Netzwerk, das ihnen zu Aufträgen bis ins grenznahe Belgien und Holland verhilft.

      Vor acht Jahren kauften sie zu einem Spottpreis den heruntergekommenen Gebäudekomplex einer konkursgegangenen Textilfirma, bauten ihn um und verkauften oder vermieteten dann die neu entstandenen Gewerbeflächen. Dorthin verlegten sie ihr Architekturbüro, das sich über zwei Ebenen erstreckt. Die moderne, gewagt winklige Konstruktion mit großen Fensterflächen steht in einem reizvollen Kontrast zu der alten Backsteinfassade.

      Claudia Verwey, die neben Richard sitzt und mehr auf seine Vorschläge eingeht als auf Axels Bedenken, arbeitet seit fast zehn Jahren mit ihnen zusammen. Sie ist 37 Jahre alt, verfügt über eine schnelle Auffassungsgabe, ist als Architektin sehr flexibel, verliert aber auch deswegen manchmal die nötige klare Linie, was dann von Richard und Axel korrigiert werden muss. Mit ihrem sicheren Auftreten und ihrem strategischen Geschick beeinflusst sie Kundengespräche und Verhandlungen oft entscheidend.

      Berufliches und Privates mischen sich bei Richard und Claudia. Sie mögen sich, Ähnlichkeiten bestätigen sie, ihre Grenzen akzeptieren sie mittlerweile. Vor drei Jahren merkten beide, dass sie mehr miteinander verbindet als enge berufliche Zusammenarbeit. Einer immer stärker werdenden Anziehung, die sie anfangs abzuschwächen versuchten, gaben sie schließlich nach und lebten sie außerhalb ihrer Ehen aus, so gut es ging. Ihre noch unbekannte private Seite zu entdecken, war für sie aufregend, eine überschätzte Seelenverwandtschaft begeisterte sie. Doch nach mehreren überhitzten Monaten mussten sie sich eingestehen, dass ihre Grenzen früher begannen als erhofft. Etwas Entscheidendes fehlte ihnen trotz aller Nähe, nämlich eine, wie sie sich eingestehen mussten, zukunftsweisende Gefühlstiefe. Was sie sich boten, war ihnen nicht genug. Die Vergleiche mit ihren Ehepartnern verunsicherten und ernüchterten sie. Sie verlangten mehr, begannen sich zu überfordern, lösten sich dann rechtzeitig voneinander. Heute mögen sie sich noch immer. Es ist mehr als Sympathie und weniger als Liebe. Das Vergangene, das in ihrer Beziehung weiter mitschwingt, mischt sich manchmal störend ein. Seit einem halben Jahr schlafen sie nicht mehr miteinander, um Gefühlsturbulenzen zu vermeiden.

      Während Richard virtuell Balkone in Dachgeschosswohnungen vergrößert und umgestaltet, sitzt im hinteren Teil des Raumes Lothar Horstmann vor einem aufgeschlagenen Aktenordner. Er blättert in statistischen Berechnungen, überprüft sie auf einem Skizzenblatt. Er ist ein unscheinbarer, etwas nachlässig gekleideter Mann von Mitte vierzig. Als Diplom-Ingenieur, der sich in London zusätzliches architektonisches Fachwissen angeeignet hat, ist er verantwortlich für das Machbare. Er begeistert sich für Brückenbauten, für sich weit über Flüsse und Buchten schwingende Stahlkonstruktionen ebenso wie für in die Landschaft eingebettete Natursteinbrücken. Tragfähigkeit bedeutet ihm alles. Er neigt zur Einsilbigkeit, erst recht, wenn Frauen in der Nähe sind. Dann wirkt er schüchtern und linkisch wie ein ewiger Junggeselle. Er ist jedoch schon seit 14 Jahren mit einer Lehrerin glücklich verheiratet und hat zwei Kinder.

      Seitlich von ihm, durch eine Glaswand getrennt, arbeiten Norbert Kander und Kevin Noll in einem lichtdurchfluteten Nebenraum, das Aquarium genannt, weil alle Wände aus Glas sind. Daran grenzt die rechtwinklig geschnittene Diele, von deren Mitte sich eine hölzerne Wendeltreppe nach oben spiralt. Dort befindet sich ein für Pausen und Besprechungen genutzter Raum, von dem man einen eindrucksvollen Blick auf Aachen hat.

      Kander steht mit nachdenklichem Gesicht und in den Taschen vergrabenen Händen vor dem Modell eines verschachtelten Gebäudekomplexes mit Geschäften und Wohnungen. Er hat die Statur eines Athleten, treibt aber keinen Sport, ist stolz auf seine Gene. Er trägt zu einer schwarzen Jeans ein Polohemd mit Miniatur-Spirale. Er sieht verwegen aus. Seine langen Haare lassen das von einer Hakennase geprägte, schmale Gesicht hohlwangig erscheinen. Er hat Architektur und Soziologie studiert, wollte Stadtplaner werden, wechselte, von seinem Berufsalltag enttäuscht, oft die Stelle, fuhr eineinhalb Jahre Taxi, versauerte danach überqualifiziert mehrere Jahre auf dem Kölner Bauamt, bevor ihn Richard auf Empfehlung eines Bekannten einstellte. Er ist vielseitig einsetzbar, weiß, was er kann, hat einen von Richard sehr geschätzten Sachverstand, ist stark in der Argumentation, aber manchmal etwas praxisfern. Ihre Entwürfe für Ausschreibungen und Wettbewerbe weiß Norbert theoretisch glänzend zu untermauern, wodurch sich ihre Erfolgschancen vergrößern. Die Artikel, die er in Fachzeitschriften veröffentlicht, sind eine gute Werbung für das Architekturbüro.

      Hinter ihm sitzt Kevin Noll in der Nähe der Telefonanlage, blickt abwechselnd zu ihm und dem Baumodell. Er scheint darauf zu warten, dass Kander etwas zu ihm sagt. Er ist 22 Jahre alt, Architekturstudent, der als Hilfskraft auch wegen seiner zurückhaltenden Art bei allen gut ankommt. Zuverlässig erledigt er die anfallenden Nebenarbeiten. Als Sohn einer alleinerziehenden Verkäuferin arbeitet er hier nicht nur in den Ferien, sondern auch stundenweise während des Semesters.

      Richard merkt, wie er alles in sich aufsaugt und zu einem realistischen Berufsbild verarbeitet. Er scheint sich hier wohler zu fühlen als in der Universität. Richard gefällt seine Leistungsbereitschaft, seine immer maßvolle Neugier und wie entschlossen er sich durchboxt, um seinen Berufswunsch zu verwirklichen. Ein intelligenter, hoch motivierter Bursche, der bestimmt seinen Weg machen wird. Verglichen mit Kevin, hat er als Student ein luxuriöses Leben geführt. Er und Axel haben bereits beschlossen, sein Gehalt ab kommendem Monat deutlich zu erhöhen.

      Richards Architekturbüro wird es im Gegensatz zu seiner Jugendstilvilla, die bald von der Vernichtungsmaschinerie des Braunkohlentagebaus dem Erdboden gleichgemacht wird, noch lange geben. Es ist der Ort, an dem er sich in letzter Zeit am wohlsten fühlt und der für ihn wichtiger als je zuvor geworden ist. Sein Reich, das ihm niemand nehmen kann, es steht auf sicheren Fundamenten, Bedrohungen gibt es nicht. Die Gegenwart glänzt und die Zukunftsperspektive erfreut. Sein erfülltes Berufsleben ist ein stabilisierender Ausgleich zu der nicht mehr abzuwendenden Zerstörung seines Zuhauses, seiner Heimat. Hätte er ihn nicht, dann könnte er vielleicht die Balance verlieren und in Schieflage geraten. Was er macht, ist sinnvoll, hat einen Wert. In seinem Architekturbüro ist er bei sich, genießt die freundschaftliche Atmosphäre, begeistert sich für seine Arbeit, gestaltet, ist kreativ. Das ist seine Welt, sagt er sich heute mehrmals, nicht das, was wegen des Braunkohleterrors passiert. Er fühlt sich im Leben positiv verankert.

      In Düsseldorf werden zur gleichen Zeit im Konzerngebäude der Energetik AG die Weichen für die Zukunft des ebenso maßlosen wie destruktiven Braunkohlentagebaus gestellt. Hoch oben in der Vorstandsetage mit Panoramablick auf die Stadt und den dunklen, matt glänzenden Rhein haben die zu 80 Prozent männlichen Mitglieder ein schönfärbendes Thesenpapier abgesegnet. Beinahe diskussionslos hat man beschlossen, dass die Strategie dieselbe wie bisher bleiben muss.

      Jede Kritik am Tagebau soll mit gezielten Gegenargumenten als ungerechtfertigt hingestellt werden. Eine Art Schutzschild ist vor gegnerischen Angriffen nötig, die mit rein privatistischen Gründen und wissenschaftlichen Halbwahrheiten die energiepolitische Notwendigkeit der Braunkohlegewinnung infrage stellen. Es muss weiterhin alles unternommen werden, um eine problemlose Stromversorgung garantieren zu können. Die Öffentlichkeit wird weiterhin professionell von ihren PR-Strategen bearbeitet. Es ist eine für sie notwendige Täuschung, die ein Gegengewicht zu den weltfremden Gegnern des Tagebaus ist. Die Energetik AG und die Landesregierung sind verlässliche Partner auf dem Energiesektor und sich ihrer großen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst. Nur dann werden sich die Investitionen bezahlt machen, wenn rein ökonomische Ziele Priorität haben und konsequent durchgesetzt werden. Die Gefühlslage von im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wenigen Menschen, die wegen des expandierenden Tagebaus umgesiedelt werden und sich an diese Tatsache noch gewöhnen müssen, ist angesichts ihrer Firmenpolitik bedeutungslos. Um auf dem internationalen Strommarkt, wo ein aggressiver Preiskampf herrscht, weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben, braucht der Konzern Handlungssicherheit und natürlich auch eine gewisse Handlungsfreiheit.

      Für die Zukunft der Braunkohle sehen die Vorstandsmitglieder nicht schwarz. Ganz im Gegenteil! Die Prognosen sind glänzend, fette Gewinne locken. Auch dank der geschickten politischen Feinarbeit der Lobbyisten, auf die man heute in diesem Kreis wieder lobend eingegangen ist. Man rechnet mit einer deutlichen Gewinnsteigerung. Der Aktienkurs wird weiter Fahrt aufnehmen, und die Anleger können mit einer noch höheren Rendite als bisher rechnen. Es ist naheliegend, dass alle, die hier versammelt