Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga. Sandra Grauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Grauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738005875
Скачать книгу
Ja, sie waren beide erfahrene Schattenwächter, aber das war der Mann mit den dunklen Haaren sicher auch gewesen. Was sollte ich nur tun, wenn einem von beiden etwas zustieß?

      Noch immer griffen die Schatten von allen Seiten an, und auf dem ganzen Platz tauchten wie aus dem Nichts immer wieder neue auf. Obwohl das Rauschen in meinen Ohren einfach nicht nachließ und wir Schatten um Schatten vernichteten, schienen es ständig mehr zu werden. Wir mussten irgendwie runter vom Platz, weg von der Thingstätte, doch wie? Ich schaffte es nicht, auch nur einen Schritt nach vorne zu tun. Trotzdem wurden Gabriel, Joshua und ich plötzlich voneinander getrennt. Auf einmal spürte ich sie nicht mehr direkt hinter mir. Hastig schaute ich mich um.

      Ein paar Schatten hatten sich zwischen uns durch das Portal gedrängt, aber den Jungs ging es gut. Wenn man das so sagen konnte, denn nach wie vor waren auch sie von Schatten umzingelt. Sie drehten sich teilweise im Kreis und verbrannten so mit ihren Fackeln und Inflammatoren mehrere Schatten auf einmal.

      Ich erschrak, als plötzlich ein Schatten direkt vor mir auftauchte und mich sofort angriff. In letzter Sekunde konnte ich seinem Schlag ausweichen und ihn verbrennen. Sofort stand ein weiterer Schatten vor mir. Dieses Mal konnte ich nicht schnell genug reagieren. Der Schatten trat mich mit voller Wucht gegen den linken Arm. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, die Fackel wurde aus meiner Hand geschleudert. Sie fiel in den Schnee und erlosch kurz darauf. Ich richtete meinen Inflammator auf den Schatten. Bevor ich ihn verbrennen konnte, trat er mich erneut, dieses Mal in den Magen. Keuchend fiel ich zu Boden.

      »Emmalyn«, hörte ich Gabriel und Joshua fast gleichzeitig schreien.

      Und dann passierte alles wie in Zeitlupe. Ich spürte den Schnee an meinen bloßen Händen und durch meine Hose, und ich zitterte. Nicht vor Kälte, diese und die Nässe nahm ich kaum wahr. Ich hatte Angst. Die Szene erinnerte mich zu sehr an das, was wir erst wenige Minuten zuvor in der Schattenwelt gesehen hatten. Gabriel und Joshua versuchten mit aller Kraft, mir zu Hilfe zu eilen. Ein Schatten nach dem anderen fing Feuer und hinterließ einen dreckigen Fleck auf dem weißen Schnee. Trotzdem konnten die beiden nicht alle Schatten überwältigen.

      Das Rauschen in meinen Ohren wurde immer schlimmer, denn ich hatte in diesem Moment einfach nicht die Kraft, diese Geräusche auch nur ansatzweise auszublenden. Der Schatten vor mir holte erneut zum Schlag aus. Ich hatte keine Zeit, aufzuspringen oder auszuweichen. Es war zu Ende. Ich schloss die Augen, hielt den Atem an, wartete auf den Schmerz.

      »Nein!«, schrie Gabriel.

      Beim Klang seiner verzweifelten Stimme schossen mir Tränen in die Augen.

      »Halt«, befahl im selben Moment eine tiefe, ruhige Stimme.

      Einen kurzen Moment lang sah ich meinen Bruder, meine Mutter und meinen Vater vor mir. Mein Vater hielt mich in seinen Armen und wirbelte mich lachend über eine Sommerwiese voller Blumen. So schnell wie das Bild gekommen war, war es wieder weg.

      »Dem Mädchen darf nichts geschehen«, sagte die Stimme weiter. Sie klang laut und respekteinflößend. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, sie schon einmal gehört zu haben. Aber das war unmöglich.

      Vorsichtig öffnete ich meine Augen wieder. Die gefährliche Hand des Schattens war kurz vor meinem Hals zum Stehen gekommen. Ich wich so weit wie möglich zurück. Der Schatten hatte sich leicht über mich gebeugt und starrte mich nun einen Moment aus seinen nicht vorhandenen Augen an. Dann richtete er sich wieder auf und trat einige Schritte zurück.

      Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich atmete tief ein und spürte, wie sich meine Lunge mit eisiger Luft füllte. Ich sah hinüber zu Gabriel und Joshua. Gabriel suchte ebenfalls immer wieder meinen Blick. Er und sein Bruder wurden weiterhin von allen Seiten von Schatten umzingelt und angegriffen. Sie standen nun ein ganzes Stück voneinander entfernt. Wie lange konnten sie noch durchhalten? Ich musste etwas unternehmen. Ohne nachzudenken, sprang ich auf und ließ den Inflammator fallen. Ich zog das Schwert aus meinem Gürtel und hielt die Klinge mit beiden Händen gegen meinen Bauch gerichtet, so als ob ich jeden Moment zustoßen wollte.

      »Hört sofort auf«, schrie ich auf Deutsch. Es passierte nichts. »Aufhören oder ich stoße zu«, schrie ich nun noch lauter.

      Meine eigene Stimme hallte in meinen Ohren wider, und tatsächlich wurde es um mich herum mit einem Schlag still. Das Rauschen in meinen Ohren ließ nach, während die Kampfgeräusche sofort verstummten. Alle starrten mich an, auch Gabriel und Joshua.

      »Was zum Teufel machst du da?«, zischte Gabriel. In seiner Stimme schwang Angst mit, doch ich ignorierte ihn.

      Die Schattenmenge vor mir teilte sich, und ein Schatten schritt langsam auf mich zu. Normalerweise sahen alle Schatten ziemlich gleich aus, doch dieser war größer und angsteinflößender als alle, die ich bisher gesehen hatte.

      Als er nur noch etwa drei Meter von mir entfernt war, hielt ich ihm eine Hand entgegen. »Das ist nah genug«, sagte ich, bemüht, dass meine Stimme nicht zitterte. Auch dieses Mal redete ich Deutsch, alles andere war zu gefährlich. Die Schatten würden vielleicht nicht meine Worte verstehen, aber ich war sicher, dass sie trotzdem wussten, was ich wollte.

      »Gebt mir das Schwert«, erwiderte er und wollte einen weiteren Schritt auf mich zu machen.

      Ich hielt das Schwert nun wieder mit beiden Händen und drückte es noch fester gegen meinen Bauch. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, aber ich biss die Zähne zusammen.

      Der Schatten blieb tatsächlich stehen. Doch dann stand er plötzlich im Bruchteil einer Sekunde ganz nah vor mir. »Vertrau mir«, sagte er so leise, dass es niemand außer mir würde hören können und schob die Spitze des Schwerts von meinem Bauch. Mit der linken Hand griff er mich anschließend an der Schulter, allerdings so sanft, dass es nicht brannte. Während er weiter sprach, gestikulierte er wie wild mit der rechten Hand. »Die Schatten dürfen nicht wissen, dass du mich verstehst.« Wesentlich lauter fuhr er fort: »Was ist Euer Begehr?«

      »Lass mich sofort los«, antwortete ich auf Deutsch und sah kurz zu Gabriel und Joshua. Beide hielten weiterhin ihre Fackeln und Inflammatoren vor sich ausgestreckt und starrten mich an. Sie waren nach wie vor umzingelt von Schatten, die nur darauf warteten, wieder anzugreifen.

      »Ihr wollt, dass wir Euch frei lassen, nehme ich an. Und wenn ich Eurem Begehr nicht stattgebe?« Bildete ich mir das nur ein, oder wurde sein Griff noch weicher?

      Ich riss mich los und hielt mir das Schwert erneut vor den Bauch. »Lasst uns gehen, oder ich bringe mich um«, sagte ich leise, und es kostete mich alle Kraft, dass meine Stimme nicht zitterte.

      Es war leichtsinnig, aber ich hatte das Gefühl, dass die Schatten mich lebendig wollten. Und dass vor allem dem Schatten vor mir an meiner Sicherheit gelegen war. Ich hatte Angst, und ich konnte mich irren. Aber das war unsere einzige Chance.

      »Ihr würdet Euer Leben für das der beiden Jungen opfern?«, fragte der Schatten. Er klang fast ungläubig.

      Ich deutete ein kaum wahrnehmbares Nicken an. »Das würde ich, und das werde ich«, antwortete ich ohne zu zögern auf Deutsch. »Lasst uns gehen.«

      Eine ganze Weile schwieg der Schatten. Dann machte er einen Schritt zurück und eine einladende Handbewegung. »Nun gut. Es steht Euch frei zu gehen.«

      Um uns herum wurde es wieder unruhig. Stimmen brandeten auf, und die Schatten bewegten sich. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Gabriel und Joshua näher zusammenrückten. Sie wirkten nervös und sahen sich misstrauisch um.

      »Meine Entscheidung steht«, sagte der Schatten vor mir, und sofort war es wieder still. Einen Moment betrachtete er mich. »Ihr seid frei. Aber seid Euch bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir uns wiedersehen.«

      Ich biss mir auf die Zunge, um nicht aus Versehen etwas zu erwidern. Dann straffte ich die Schultern, denn ich wollte auf keinen Fall, dass die Schatten meine Angst sahen. Ich griff nach meinem Inflammator und ging langsam auf Gabriel und Joshua zu. Dabei ließ ich den Schatten nicht aus den Augen. Er stand weiterhin bewegungslos an derselben Stelle, und auch die anderen Schatten rührten sich nicht.

      »Was ist hier los?«, fragte Joshua