Ich ließ Gabriels Hand los und berührte im Vorbeigehen vorsichtig die Hieroglyphen. »Wie funktioniert das Portal denn jetzt?«, flüsterte ich, denn vor lauter Ehrfurcht vor diesem Ort traute ich mich nicht, lauter zu sprechen.
Wie man Portale öffnete, war Grundwissen für Schattenwächter. Joshua hatte mir mal erzählt, dass die Wächter jederzeit in die Schattenwelt gelangen konnten. Aus Angst, was mir dort alles passieren könnte, hatte Noah ihm jedoch damals verboten, mich einzuweihen. Bei dem Gedanken daran, was Noah jetzt alles passiert sein konnte, klopfte mein Herz noch schneller, als es das ohnehin schon tat.
»Das erklär ich dir später«, antwortete Gabriel.
Ich blieb stehen. »Willst du mir damit etwa sagen, dass ihr mir immer noch nicht verraten wollt, wie ich das Portal öffnen kann?« Ich spürte einen Stich. Schließlich war ich jetzt vollwertige Schattenwächterin und kämpfte Seite an Seite mit den Jungs gegen Schatten.
»Ganz ruhig, Emma«, meinte Gabriel sanft. Er blieb ebenfalls stehen und wandte sich mir zu. »Wir haben jetzt bloß keine Zeit für lange Erklärungen. Außerdem wird das Portal noch offen sein.«
»Wir sollten uns beeilen«, meinte Joshua, der voraus gegangen war. Nun drehte er sich zu uns um und leuchtete mit seiner Fackel in unsere Richtung. »Ich erzähl dir gern später alles, was du wissen willst, aber jetzt müssen wir zusehen, dass wir hier so schnell wie möglich wegkommen.«
»Joshua hat ausnahmsweise mal recht«, sagte Gabriel und folgte seinem Bruder.
Seufzend fuhr ich noch einmal mit meiner freien Hand über die Mauer mit den Hieroglyphen, dann folgte auch ich den beiden. Hinter der Mauer bogen wir rechts ab und standen vor einer großen Öffnung, die sich mitten im Boden vor uns auftat. Es war dunkel, und alles was ich erkennen konnte, waren ein paar Stufen, die weiter nach unten führten. Während Joshua bereits die ersten Stufen hinabstieg und auf einmal in der Dunkelheit verschwunden war, drehte sich Gabriel noch einmal kurz zu mir um.
»Sei vorsichtig. Die Stufen sind extrem steil und rutschig.«
Steil war gar kein Ausdruck, wie ich feststellen musste. Die Stufen führten fast senkrecht hinab, und sie waren wirklich rutschig. Um nicht zu stürzen, stützte ich mich mit der freien Hand an der Mauer ab, während ich mir mit der Fackel den Weg leuchtete. Es war ziemlich dunkel, obwohl über unseren Köpfen an der Decke in regelmäßigen Abständen Lampen brannten, allerdings nur sehr schwach. Ich nahm an, dass es sich um die Notbeleuchtung oder etwas in der Art handeln musste.
Wir befanden uns in einem Gang, der fast etwas von einer Höhle hatte. Und es roch auch wie in einer Höhle. Die Luft war modrig und feucht, um mich herum war alles aus braunrotem Stein – Decke, Wände, Stufen. Es war so eng in diesem Gang, dass ich Beklemmungsgefühle bekam. Meine Platzangst war zum Glück nur leicht ausgeprägt, ansonsten hätte es mich deutlich mehr Überwindung gekostet, diese Stufen hinabzusteigen. So atmete ich bewusst ein und aus und konzentrierte mich auf den Weg vor mir. Joshua war nicht mehr zu sehen, doch Gabriels Fackel leuchtete nur ein paar Schritte weiter vor mir.
»Geht's?«, hörte ich ihn nun fragen.
»Ja«, antwortete ich etwas gepresst, ohne meinen Blick von den Stufen zu nehmen. Doch dann befand ich mich auf einmal auf einer kleinen Plattform und stand Gabriel direkt gegenüber, der hier auf mich wartete. Er lächelte leicht und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Die Hälfte hast du schon fast geschafft«, sagte er, dann ging er weiter.
Die Plattform führte in einem engen Winkel nach rechts, bevor weitere Stufen vor uns auftauchten. Am liebsten wäre ich wieder umgekehrt, denn hier fühlte ich mich alles andere als wohl. Aber ich dachte an Noah und stieg weiter eine Stufe nach der anderen hinab. Mit jeder Stufe wurde es kälter und die Luft noch modriger. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns mittlerweile unter der Erde befanden. Hastig schob ich den Gedanken beiseite, weil er mich noch unruhiger werden ließ. Doch dann hatten wir es endlich geschafft.
Die ganze Zeit über hatte ich hauptsächlich auf meine Füße geschaut, aber nun sah ich auf. Joshua und Gabriel standen nur ein paar Schritte von mir entfernt am Ende des Ganges, direkt vor einer Art dreieckiger Tür aus Stein, die aufgezogen war. Links daneben erkannte ich ein Gitter, doch von dieser Position aus konnte ich nicht erkennen, was sich dahinter befand. Beide Jungs blickten zu mir. Langsam schritt ich auf sie zu. Da sie mir die Sicht versperrten, konnte ich immer noch nichts sehen. Ich konnte nur erahnen, was hier sein sollte.
Ich schluckte. »Das Portal?«, fragte ich leise.
Gabriel nickte und schob mich an sich vorbei. So konnte ich einen Blick durch die Gitterstäbe werfen. An der gegenüberliegenden Wand brannte ein Licht, das aber auch nicht viel heller war als die Lampen, die an der Decke über den Stufen hingen. Im Schein der Fackeln konnte ich einen kleinen Raum ausmachen.
Die Wände ringsherum spitzten sich nach oben zu, sodass der Raum ebenso wie die Tür davor dreieckig war. In der Mitte des Raumes befand sich eine Art rechteckiger Sockel, der fast den kompletten Raum ausfüllte, und darüber war eine mit Hieroglyphen verzierte Platte. Zwischen Sockel und Platte waren einige Zentimeter Platz, sodass es aussah, als ob die Platte in der Luft schweben würde.
»Das ist die Grabkammer des Maya-Königs Pakal«, sagte Joshua hinter mir.
Ich ließ meinen Blick noch einmal durch den Raum gleiten, dann drehte ich mich zu Joshua um. »Wo genau ist denn das Portal?«
»Die Grabplatte ist der Zugang zum Portal. Mach mal Platz.«
Ich trat einen Schritt beiseite, um Joshua an mir vorbeizulassen. Er griff nach einem der Gitterstäbe und zog das Gitter einfach auf. Fragend sah ich Gabriel an.
»Josés Männer haben das Gitter vorhin aufgeschlossen, als sie kontrolliert haben, ob das Portal geöffnet ist«, erklärte er mir.
Joshua drehte sich noch einmal zu uns um. »Bereit?«
Gabriel nickte. Ich schluckte abermals. In meinem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit, aber ich nickte ebenfalls.
»Bleib hinter uns«, sagte Joshua an mich gewandt. Er ging auf die Grabplatte zu, was mir auf einmal sehr vertraut vorkam. Es war wie ein Déjà-vu, als sich plötzlich der Schatten der Grabplatte ausdehnte und Joshua darin verschwand.
Gabriel griff nach meiner Hand und schob mich ein Stückchen hinter sich. Dann ging er wie sein Bruder auf die Grabplatte zu und zog mich mit sich. Ich schloss instinktiv die Augen, während sich das flaue Gefühl in meinem Magen verstärkte. Als ich die Augen wieder öffnete, war es um uns herum etwas heller geworden. Das flaue Gefühl im Magen war weg, dafür überkam mich sofort das bekannte Rauschen in den Ohren. Es war allerdings noch lauter als in unserer Welt.
Hastig schaute ich mich um. Wir befanden uns in einer Art niedriger Höhle. Decke und Wände waren aus grauem Stein, und in den Wänden steckten in regelmäßigen Abständen kleine ovale Steine, die hell leuchteten. Außerdem gab es Türen in den Wänden, über denen Orte standen wie: Amesbury, England; Paris, France; New York, USA. Doch das war noch nicht alles. Überall waren Schattenwesen, es mussten hunderte sein. Für einen Moment hielt ich vor Schreck die Luft an. Damit, dass wir hier auf Schatten treffen würden, hatte ich ja gerechnet, aber nicht, dass es so viele sein würden.
Wie sollten wir bloß mit ihnen fertig werden? Ein Schatten war schon gefährlich genug, aber hier kamen sie von allen Seiten. Es war fast ein bisschen wie in der Walpurgisnacht, allerdings fehlte die Unterstützung anderer Schattenwächter. Auf den ersten Blick schien das völlige Chaos zu herrschen, doch als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass jeder Schatten genau wusste, wo er hin musste. Wie Soldaten marschierten sie durch die Höhle und durch die verschiedenen Portale.
Auch ein Dutzend Schattenwächter waren bereits