Doch jetzt schaute sie durch ihre Gläser. Ihr Blick blieb auf Jana hängen.
„Jana, wie heißt dieser Fall auf Latein?“
Wie sollte Jana das wissen? War sie vielleicht Lateinerin? Oder auf dem Gymi? Ich wollte schon bedeutungsvoll mit den Augen rollen.
Da hörte ich Jana sagen: „Nominativ!“ Ganz selbstverständlich.
Ich fasste es nicht. Diese Streberin. Uns anderen Unwissenden so in den Rücken zu fallen!
Hoffentlich ist es falsch, dachte ich und schaute erwartungsvoll zur Lehrerin.
Doch die nickte zufrieden.
„Sehr gut, Jana!“
Jana war meine Freundin. Deshalb konnte ich ihr nicht gut beleidigt sein. Ich verzieh ihr also großzügig. Das heißt, sie wusste das natürlich nicht. Sie sah nur, dass ich ihr zulächelte.
Trotzdem saß ich langsam wie auf Kohlen. Wie lange dauerte der Unterricht eigentlich heute? Die vier geplanten Stunden kamen mir länger vor, als sonst sechs.
Der Zeiger der Uhr kroch so langsam vorwärts, dass sogar eine Schnecke ein Rennpferd dagegen war.
„Inzwischen bin ich zu Fuß nach Mallorca gegangen“, seufzte ich innerlich. Ohne zu überlegen, dass ich dabei übers Wasser laufen müsste.
Endlich, endlich, teilte die Lehrerin die Zeugnisse aus. Auf den Teil des heutigen Tages hätte ich liebend gerne verzichtet. Zum Einrahmen eignete sich mein Zeugnis sowieso nicht. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich es sofort im Altpapier entsorgt. Aber meine Eltern wollten es ja unbedingt sehen. Natürlich mussten sie es auch noch ungefragt kommentieren. Dazu kamen dann sicherlich wieder diese völlig unqualifizierte Fragen, wie: „Wie stellst du dir eigentlich deine Zukunft vor?“ und „Was willst du eigentlich werden?“
Für meine Berufswünsche „Schauspielerin“, oder kurz und bündig „berühmt“, hatten sie irgendwie nichts übrig.
Völlig unverständlich. Denn schließlich profitieren sie doch auch, wenn ich eines Tages reich werde.
Ich sah nicht ein, weshalb ich da unbedingt lauter Einser und Zweier brauchte. Ich glaubte nicht, dass die Reichen, wie, sagen wir mal die Geißens, so gut in der Schule waren!
Jedenfalls wunderte ich mich nicht, als Frau Stumpf mir das Zeugnis gab, mit den Worten: „Du hättest dich mehr anstrengen sollen, Anna-Maria.“
Das würden mir meine Eltern zu Hause noch mal sagen.
Ich packte das Zeugnis in die Schultasche, ließ die Schnallen zuschnappen und wartete auf den Schulgong.
Endlich konnte ich der Schule für sechs lange Ferienwochen den Rücken zukehren!
Endlich Ferien!
Wir flogen nicht nach Mallorca. Doch das wusste ich noch nicht, als ich nach Hause ging. Ein Gutes hatte das immerhin: mein Zeugnis war in diesem Jahr nebensächlich. Als ich nämlich zu Hause ankam, war alles in hellem Aufruhr.
Der Krankenwagen fuhr gerade vor und trug meinen Vater auf einer Bahre an mir vorbei. Ich stand starr vor Staunen am Straßenrand und begriff erst einmal gar nichts. Dann ließ ich es mir von meiner Mutter erklären.
Eigentlich wollte sich mein Vater bloß die Zeitung ins Haus holen. Er spazierte zum Briefkasten und fischte sich die Zeitung heraus. Bis dahin ging auch alles gut. Er nahm also die Zeitung und war schon fast im Haus. Aber statt einfach hineinzugehen, las er sich an der Titelseite fest. Vielleicht vertiefte er sich in die Börsenberichte. So genau wusste das keiner. Hinterher hat sich niemand mehr dafür interessiert, was mein Vater eigentlich gelesen hat.
Jedenfalls achtete er nicht auf seine Umgebung und schon gar nicht auf die Bananenschale, die mir am Tag zuvor aus der Mülltüte gerutscht war. Ungern gebe ich zu, dass ich die eigentlich hätte aufklauben sollen, aber ich dachte ist ja Bio – verwest eh. Ich überlegte gar nicht, dass das länger dauern könnte. Jedenfalls vertrug sich die Bananenschale nicht mit den Schuhen meines Vaters, sondern rutschte einfach weg. Mein Vater dagegen knallte auf das harte Pflaster, wobei seine alten Knochen erheblich an Elastizität zu wünschen übrig gelassen hatten. Sie hielten die unsanfte Landung nicht aus. Soweit meine Mutter.
Den Krankenwagen hatte ich ja schon gesehen. Mein Vater kam ins Krankenhaus. Dort diagnostizierte der Arzt einen Oberschenkelhalsbruch.
Da lag er nun und wir flogen nicht nach Mallorca.
Noch am selben Tag telefonierte ich stundenlang mit Jana und überschüttete sie mit meinem Elend. Leider hatte sie gar kein Verständnis. „Jetzt hab dich nicht so, andere fahren auch nicht in Urlaub.“
Und so was nennt sich beste Freundin. Wenn sie es nur einmal gesagt hätte, aber nein, sie wiederholte es bestimmt dreimal.
Sie erinnerte mich daran, dass sie auch nicht in den Urlaub fuhr. Als ob das was änderte…
Genervt legte ich auf und vertraute mein Elend meinem Bärchen an. Ein Kuscheltier, das ich eigentlich schon längst ausgemustert hatte, weil ich schon viel zu groß dafür bin. Aber manchmal ist es doch ganz gut, wenn man wenigstens einen hat, der einen versteht…
Nach einer halben Stunde rief Jana wieder an.
„Stell dir vor“, begann sie. „Ich habe eine Überraschung für dich“.
Da war ich aber mal gespannt. Was konnte das sein?
„Der Alex und der Tom sind in den Ferien auch zu Hause. Sie wollen was mit uns unternehmen!“
Ich wusste nicht, was mehr Spaß bringt, diese Nachricht, oder wenn mir der Staubsauger auf den Fuß fällt.
„Alex und Tom?“, fragte ich, wobei ich versuchte, meine Stimme nicht allzu genervt klingen zu lassen. „Der Alex und der Tom, aus unserer Klasse?“
„Kennst du noch andere?“, wollte sie ziemlich begriffsstutzig wissen.
„Ne, aber die sind doch furchtbar langweilig.“
„Warten wir’s ab.“ Janas Stimme klang auf einmal so geheimnisvoll, dass ich dachte, vielleicht ist es doch besser, den Urlaub mit den beiden, als alleine zu verbringen.
„Also gut, versuchen wir es.“, gab ich nach.
Dann kam der erste Ferientag.
„Anna-Maria, du hast Besuch“, meine Mutter stand an der Tür und schob meine Freundin Jana ins Zimmer. Ich lag noch im Bett und blinzelte unter der Decke hervor. Ein Blick zum Wecker: Der Zeiger stand auf halb zehn. Nanu, hatte ich mich im Datum geirrt? Heute war doch unser erster Ferientag?
Was wollte da Jana in aller Herrgottsfrüh, wenn jeder halbwegs normale Schüler in seinen wohlverdienten Ferien noch im Tiefschlaf lag? Hatte sie nichts Besseres zu tun? Die Gedanken hingen zusammenhangslos wie herumschwebende Seifenblasen in meinem Kopf.
Ich war viel zu müde, um auch noch zu reden. Stattdessen grummelte ich nur, machte eine abwehrende Handbewegung und drehte mich zur Wand, um weiter zu schlafen. Falls ich dachte, dass sich Jana davon abschrecken ließe, oder gar wieder verschwinden würde, lag das daran, dass ich noch halb träumte. Denn Jana ließ sich natürlich nicht davon abhalten, mich aus dem Bett zu werfen.
„Raus!“, rief sie und zog mit einem Ruck meine Decke weg. „Hast du vergessen, dass wir mit Alex und Tom was ausgemacht haben?“
Allerdings, das hatte ich! Mit einem Schlag war ich hellwach. Kerzengerade setzte ich mich im Bett auf. Heute am ersten Ferientag wollten wir mit Alex und Tom über die vor uns liegenden Wochen sprechen. Ich bekam die Krise, als es mir wieder einfiel: Wir vier waren die einzigen in der ganzen Klasse, die nicht in Urlaub fahren würden. Diese Erkenntnis machte mich platt. Seufzend ließ ich mich wieder in meine Kissen fallen.
„Aufstehen!“, wiederholte Jana. „Tom und Alex