Auch als der zweite Kran endlich einsatzbereit war, mühten sich die Arbeiter und Biologen noch stundenlang mit dem Kadaver ab. Zu dem Stahlseil, das man schon am Morgen um den hinteren Teil des Wals geschlungen hatte, und das über den ersten Kran lief, kam nun ein weiteres vom zweiten Kran, das um den Kopf des Kadavers gezurrt wurde. So konnte das Tier endlich aus dem Wasser gehoben werden, wobei es, wie ein gigantischer Egel zwischen den beiden Schlaufen hängend, einen noch erbärmlicheren Eindruck machte als vorher. Immerhin gelang es nun, den Wal langsam und vorsichtig auf der Ladefläche des Tiefladers abzulegen, mit dem Kopf zum Heck. Nun erwies sich jedoch, dass man sich mit dem Gewicht des Wals grob verschätzt hatte. Der Ladeanhänger brach unter dem Kadaver zusammen, der zweifellos mehr als fünfzig Tonnen wiegen musste. Ein 100t-Anhänger musste bestellt, der Wal wieder angehoben, der zerstörte Anhänger entfernt und der stärkere unter den Wal manövriert werden, bis das schwergewichtige Untersuchungsobjekt endlich als geborgen bezeichnet werden konnte. Die Arbeiter nahmen erschöpft den zaghaften, aber verdienten Applaus der verbliebenen Zuschauer entgegen, die sich auf diese Weise für die Ablenkung von ihrem kriegsgewohnten Alltag bedankten und sich zerstreuten, bevor der Wal, es war mittlerweile schon Nacht geworden, gänzlich fixiert und transportfertig war. Die fortgeschrittene Tageszeit war es auch, welche die Bovniker Behörden veranlasste, den sofortigen Abtransport des Kadavers zur Universität zu untersagen. Die nächtliche Ausgangssperre, die dem Ausnahmezustand geschuldet war, galt nun einmal auch für diesen Sonderfall. So musste der tote Wal die Nacht auf einem abgeschlossenen Lagerplatz im Hafen verbringen, wo die dort stationierte, vierköpfige Wachmannschaft ihn in ihre Obhut nahm. Leider hatten die Stunden (oder gar Tage), die der Wal tot im Meer getrieben hatte, das hilflose Gezerre an den scharfen Stahlseilen, die um den Leib des Wals geschlungen worden waren, und zu guter Letzt das Eigengewicht des Kadavers, der zwischen den Seilen baumelte, seine Wirbelsäule und die inneren Organe, Blutgefäße und Bindegewebe derart stark gewalkt, gezerrt und gestaucht, dass das schon im Verwesen begriffene Tier, als die warme, mediterrane Nacht fortschritt, eher einem mit zig Tonnen verdorbener Eingeweide gefüllten Sack als einem toten Säugetier glich. Durch die beschleunigte Verwesung im Inneren des Kadavers entstanden mehr und mehr Gase, die den Leib aufblähten. Diese Veränderung fiel den Wachmännern in ihrem Wachhäuschen nicht auf, sie hatten sich nur anfangs ein paar Minuten für die spektakuläre Fracht auf dem Platz interessiert, sich gegenseitig fotografiert, wie sie vor dem Wal posierten und sich dann ihrer nächtlichen Routine gewidmet. Verhängnisvollerweise war am folgenden Morgen keiner der Meeresbiologen der Universität mit zum Hafen gekommen, als der Tieflader sich auf den Weg zur Fakultät machte, und so fiel niemandem auf, dass der Kadaver sich über Nacht erheblich aufgebläht hatte. Was den wenigen Männern auffiel, die an jenem Morgen in die Nähe des Wals kamen, war der mächtige Penis, der plötzlich, vor ihren Augen, durch den Druck im Leibesinneren aus seiner Hauttasche gepresst wurde und von nun an seitlich des Kadavers herabhing. Selbst im schlaffen Zustand maß dieses auberginefarbene, spitz zulaufende Fortpflanzungsorgan knapp zwei Meter Länge und veranlasste die anwesenden Männer, sich wiederum gegenseitig vor dem toten Wal zu fotografieren, diesmal, angestachelt von der Vorstellung maßloser Potenz, in sehr aufgeheiterter Stimmung. Erst danach hatte man den Lastwagen in Gang gesetzt. Die Rüttelbewegungen während der Fahrt durch die Stadt und die ansteigenden Temperaturen verstärkten die Gasentwicklung im Innern des Tieres ein weiteres Mal. Vielleicht hätte der Körper dem wachsenden Druck länger widerstehen können, wäre der Wal am Vortag nicht doch bereits mit starken inneren Verletzungen, die zu seinem Tode geführt hatten, angeschwemmt worden. Denn anders, als die Schaulustigen und auch die Biologen vermutet hatten, war der Wal nicht einfach so gestorben. Er war von einem gigantischen, stählernen Hammer getroffen worden, unvorbereitet, und vielleicht sogar, ohne dass es der Wal überhaupt bemerkte. Der Hammer hatte seine Wirbelsäule zerschmettert, als er, verloren in einem tiefen, kollektiven Traum aufrecht im Wasser schwebend, mit dem mächtigen Kopfende knapp über der Wasserlinie, schlief. Der Hammer, das war der Bugwulst eines einhundertneunzig Meter langen Containerschiffes, beladen mit Baumaterialien, Handels- und Hilfsgütern für Bovnik. Mit seiner Höchstgeschwindigkeit von 35 Knoten war der Frachter einige Tage vor dem unappetitlichen Vorfall in der Bovniker Innenstadt etwa zehn Seemeilen vor der Küste in eine Gruppe schlafender Pottwale gefahren. Im Zustand der maximalen Beladung des Schiffes durchpflügte die Spitze des Wulstbugs das Wasser etwa sechs Meter unter der Oberfläche und traf den träumenden Wal direkt in den Rücken, zerschmetterte seine Wirbelsäule oberhalb der Körpermitte und quetschte das umliegende Gewebe, Nerven und Blutgefäße so stark, dass das bewusstlose und bewegungsunfähige Tier wenige Stunden später an inneren Blutungen starb. Zuvor aber versammelten sich einige der anderen Wale um den Verletzten und brachten ihn in die Nähe der Küste. Erst als er kein Lebenszeichen mehr zeigte, überließen sie ihn der Strömung und zogen sich wieder zurück in tiefere Gewässer. Dass er während des Schlafes getroffen worden war, den Pottwale vollkommen austariert wie Bojen direkt an der Wasseroberfläche verbringen, sorgte auch dafür, dass er nicht in die Tiefe sank, sondern selbst nach seinem Tod noch an der Oberfläche dümpelte, bis er schließlich beim Hafen anlandete. Sein Körper platzte über der Wirbelsäule auf, genau an der Stelle, die von dem Frachtschiff getroffen worden war.
Endlich legte jemand eine Hand des Verschütteten frei und schrie nach den anderen Helfern, die, über und über mit Blut und halb verdautem Tintenfisch beschmiert, zu ihm eilten. Die umstehenden Gaffer, die trotz des unerträglichen Gestanks immer zahlreicher wurden, fühlten sich wie in einer dieser Fernsehshows, in der kleine Teams sich durch einen Swimmingpool voller Schmierseife arbeiten müssen, nur war das hier keine Seife. („Jedenfalls noch nicht!“, scherzte einer, der sich mit Walen auszukennen glaubte.) Die Helfer legten den Kopf und den anderen Arm Salvatores frei und zogen an seinen glitschigen Gliedmaßen, zerrten, rutschten ab, zerrten wieder. Diesmal fühlten sich die Zuschauer an TV-Dokumentationen erinnert, in denen wagemutige Tierärzte Kühen, Elefanten oder Giraffen Geburtshilfe leisten, wobei man anfangs nur einige Gliedmaßen des Neugeborenen erkennen kann, in oft absurden Verrenkungen, glitschig so wie hier, bis irgendwann der ganze Körper herausstürzt, begleitet von einem Schwall aus Blut, Fruchtwasser und der Nachgeburt. Endlich befreiten die Helfer den leblosen Körper, zogen ihn aus der blutigen Masse heraus. Kein Puls, keine Atmung war auszumachen. Allerdings auch keine äußerlichen Verletzungen, soweit man das in all dem Walmatsch und Blut überhaupt ausmachen konnte. Einer der begleitenden UN-Soldaten zog dem Mann seinen altmodischen Motorradhelm vom Kopf, strich mit seinen vor Aufregung zitternden Händen das unbeschreibliche, schmierig-blutige Zeug so gut er konnte zuerst aus seinem, dann aus Salvatores Gesicht, unterdrückte den Brechreiz und begann, das Opfer des toten Wals zu beatmen und sein Herz zu massieren und fuhr damit fort, bis ein Krankenwagen eintraf. Gerade als sich der Notarzt, gegen die Übelkeit ankämpfend, die ihn am Unfallort wie ein Schlag getroffen hatte, über den Körper beugte, der von den Innereien, dem Blut und den stinkenden Ambra-Klumpen um ihn herum kaum zu unterscheiden war, betrachtete Salvatore die Szenerie mit tiefer Freude und einer bis dahin für ihn gänzlich unbekannten Gelassenheit. Wie ein kühnes, von Rot- und Violetttönen geradezu überbordendes Gemälde mit einem himmelblauen Bildhintergrund breitete sie sich über ihm aus. Über ihm. Jetzt erst bemerkte Salvatore, dass er sich selbst und alles andere von unten sah, umrahmt von den feucht glänzenden Schlieren, Schlingen und Klumpen, die ihn eben noch bedeckt hatten. Er sah den Notarzt, der sich auf Salvatores Reanimation vorbereitete und seinen Rettungssanitätern Kommandos zurief, sah den Walkadaver, dem Eingeweide wie eben erst erstarrte Lavaflüsse aus dem aufgerissenen Leib hingen, sah die Menschen, die rundherum um Fassung rangen und über das Geschehen staunten, das selbst den abgebrühten Bovnikern wie das ultimative und sprichwörtliche Blutbad erscheinen musste, und darüber den blauen, strahlenden Morgenhimmel, sah alles, als bestünde der Boden aus Glas oder Wasser und Salvatore schwebe heiter spielend darunter her. „Traum“, dachte Salvatore. „Wie schön.“
Vera
In ihrem leichten, dunkelblauen Mantel, mit einer großen, sehr dunklen Sonnenbrille auf der Nase, Ballerinas an den Füßen und einem einfachen Einkaufsbeutel, der an ihrer Armbeuge baumelte, sah Vera aus wie die meisten der Bovniker Frauen, die an