Es war kurz vor 18:00 Uhr, die Mannschaften liefen auf und nahmen links und rechts vom Schiedsrichtergespann Aufstellung. Die Nationalhymne ertönte und die Vorfreude auf das Spiel stieg bei uns ins Unermessliche. Es waren mehr als zwanzigtausend Anhänger des HSV im Stadion, die schon vor dem Spiel für reichlich Stimmung sorgten. Philipp und ich hatten unsere HSV-Trikots an und trugen einen blau-weiß-schwarzen Fan-Schal um den Hals. Die Partie wurde vom Unparteiischen angepfiffen. Die Stuttgarter spielten überraschend offensiv und der HSV wusste zunächst, nichts damit anzufangen. In der zwölften Minute tankte sich Baffoe auf der rechten Angriffsseite durch und konnte ungehindert in den Strafraum flanken. Dort wartete schon der Stuttgarter Kurtenbach, um den Ball wuchtig und unhaltbar an Uli Stein vorbei ins linke Eck zu köpfen. Wir waren über den bisherigen Spielverlauf erstaunt und der frühe Rückstand entsetzte uns geradezu. Selbst mein Vater schüttelte fassungslos den Kopf.
„Ich hoffe, dass jetzt alle Spieler wach sind, Mann, Mann, Mann, der Treffer war zu einfach“, stellte ich enttäuscht fest.
„Die müssen jetzt echt ‘ne Schippe drauflegen“, meinte mein Paps.
Es folgte der Anstoß des HSV. Nach einigen kurzen Ballstafetten kam das Leder auf rechts zu Kastell, der allerdings von einem Stuttgarter gefoult zu Boden ging. Den fälligen Freistoß schlug Kaltz in die Mitte, die Stuttgarter konnten zunächst klären, aber Okonski sicherte sich den Ball auf der linken Seite und sein Flankenversuch wurde ins Seitenaus geblockt. Nach dem Einwurf brachte der HSV die Kugel wieder gefährlich in den Strafraum und der Hamburger Jusufi kam bei dem Versuch, den Ball zu verarbeiten, zu Fall. Der Schiedsrichter ließ weiterspielen und die Stuttgarter versuchten ihrerseits, wieder vor das Hamburger Tor zu gelangen. Eine harmlose Flanke fing Stein ab und leitete den nächsten Angriff des HSV ein. Der Ball gelangte über einige Stationen zu Manni Kaltz, der aus dem rechten Halbfeld einen genialen Pass auf den von hinten gestarteten Beiersdorfer in den Stuttgarter Sechzehner spielte. Beiersdorfer zog im Fallen direkt ab und versenkte die Kugel rechts unten im Tor. Wir jubelten! Drei Minuten nach dem Rückstand war der Ausgleichstreffer für den HSV die richtige Antwort auf die verpennte Anfangsphase. Es ging mit dem Spielstand von 1:1 in die Halbzeit.
„Ich hätte nicht gedacht, dass das Spiel so eng wird“, sagte Philipp etwas ernüchtert.
„Komm, in der zweiten Halbzeit wird’s besser. Da werden den Stuttgartern die Kräfte schwinden und der HSV zu mehr Chancen kommen“, meinte ich aufmunternd.
„Wenn sie das Spiel heute nicht gewinnen, möchte ich nicht wissen, was in der Stadt los ist?“, äußerte sich unser Vater skeptisch.
„Ach, du schon wieder, die werden nicht verlieren und wenn doch, bist du schuld, weil du es jetzt herbeigeredet hast“, sagte ich.
„Papa, du gehst besser raus. Du bringst ohnehin immer Pech, wenn du bei einer Live-Übertragung oder im Stadion dabei bist!“, wandte sich Philipp mit ernstem Gesichtsausdruck an meinen Vater.
Der lachte nur und meinte: „Das ist doch nicht dein Ernst. Die spielen wie die letzten Würste und ich soll schuld sein, wenn die verlieren?“
„Jaaaaa!!!“, riefen wir beide und versuchten ihn aus unserem Wohnzimmer zu schmeißen. Leider mit wenig Erfolg.
„Geh mal auf die Terrasse, eine rauchen oder such Mama! Der zweite Durchgang wird gleich angepfiffen“, sagte ich kiebig.
Unsere Mutter hatte sich schon lange vor Spielbeginn zu einer Nachbarin verzogen, weil sie Fußball so gar nicht interessierte.
„Ich lass mich doch von euch Flitzpiepen, nicht aus meinem eigenen Wohnzimmer vertreiben“, lachte er und deutete auf den Fernseher: „So, es geht weiter, Ruhe jetzt!“
Die zweite Halbzeit war bis zur 88. Minute zwar spannend, aber das Niveau ließ weiterhin eine Steigerung erhoffen. Plötzlich wurde Okonski kurz vor dem Strafraum gefoult. Kaltz legte sich den Ball etwa 23 Meter vom Tor entfernt zum Freistoß bereit.
„So alle anschnallen! Manni knallt ihn jetzt rein“, rief ich voller Überzeugung.
„Soll ich jetzt rausgehen?“, fragte mein Vater scherzhaft.
„Das wäre echt besser!“, antwortete Philipp ganz trocken.
„Okay, dann tue ich euch den Gefallen, um zu beweisen, dass ihr mit eurer komischen Theorie voll daneben liegt. Das wird ja eh nichts. Die müssen sicher in die Verlängerung.“
„Raus!“, rief Philipp.
Unser Paps verließ den Raum und stellte sich in den Flur, von dem er immer noch einen guten Blick auf den Bildschirm hatte.
Kaltz lief an und schlenzte den Ball rechts an der Mauer vorbei ins Tor. Wir sprangen auf und jubelten: „Tooor, Tooor!“
Es stand nun 2:1 für den HSV und es war nur noch eine Minute offiziell zu spielen.
„So, du bleibst jetzt draußen, bis der Schiri abpfeift“, ärgerte Philipp weiter jubelnd unseren Vater. Der stand immer noch im Flur und begriff gerade, was diese Aktion künftig für ihn bedeutete. Bis in die Gegenwart hinein ist es bei uns in der Familie ein Running Gag, meinen Vater aus dem Raum zu schicken, wenn es beim gemeinsamen Fußballschauen für den HSV nicht so gut läuft. Leider kommt das in letzter Zeit öfter vor.
Freitag, 21:42 Uhr: Mehr als 25 Jahre später bei unserem Männerabend springen Andy und ich johlend vom Sofa auf und klatschen ab. Der HSV erzielt den Ausgleich in der 62. Minute.
„Das wurde jetzt aber auch Zeit, verdammt noch mal. Ich dachte, die treffen heute gar nicht mehr, bei den Chancen, die sie bisher liegen gelassen haben“, freut sich Andy.
„Der Ausgleich war jetzt aber auch verdient!“, nicke ich zustimmend.
„Jetzt müssen sie genauso weitermachen und ich brauch ein frisches Getränk. Die Spannung bei diesem Kick macht mich echt durstig!“
Andy nutzte die Jubelpause, um frisches Eis aus der Küche zu holen. Wir waren bereits, wie angekündigt, von Bier auf Cuba Libre umgestiegen. Der Blue Mauritius schmeckte auch im Longdrink mit Cola und Limette äußerst lecker.
„So, weiter geht’s! Jetzt muss der Führungstreffer her“, sage ich erwartungsfroh gestimmt.
Zurück im Jahr 1987 freuten wir uns im elterlichen Wohnzimmer immer noch über den Führungstreffer. Die Stuttgarter stießen an und versuchten alles nach vorne zu schmeißen. Der HSV sicherte sich den Ball und ein langer Pass erreichte Frank Schmöller. Er setzte sich geschickt und mit Tempo auf der rechten Seite durch, dabei umkurvte er einen Gegenspieler und schoss den Ball scharf in Richtung gegnerisches Tor. Der Stuttgarter Schlotterbeck schob die Kugel bei seinem Rettungsversuch unglücklich ins eigene Netz. Das Spiel war entschieden. Der HSV sicherte sich den Pokal mit einem letztlich verdienten 3:1 Sieg. Nach Ende der Fernsehübertragung klingelte sofort das Telefon bei uns. Es war Andy.
„Hey Alter, hast du das Spiel eben gesehen?“, meldete sich Andy, nachdem er wusste, dass ich auch am Hörer war.
„Klar doch!“
„Sensationell,