Eine Woche vor Friederikes Geburtstagsparty wollte eine andere Mitschülerin mit uns feiern. Sie hieß Rosa und hatte ein süßes und freundliches Wesen. Sie kam aus Billstedt und leider auch aus schwierigen familiären Verhältnissen. Ihr Erzeuger hatte sich sehr früh aus den Staub gemacht und ihre Mutter mit den Kindern und allen dazu gehörigen Sorgen alleine gelassen. Mama Schütz war sehr bemüht, es ihren Töchtern an nichts fehlen zu lassen, konnte aber auch nicht die Vaterfigur ersetzen. Rosa litt unter der Situation, ohne Papa aufzuwachsen und war dadurch bedingt sehr zurückgenommen und schüchtern im Umgang mit anderen. Sie brauchte ihre Zeit, um zu Menschen in ihrer Umgebung tatsächlich Vertrauen zu fassen. Zudem hatte Rosa etwas Übergewicht, was ihr Selbstwertgefühl auch nicht gerade stärkte. Trotz ihrer Schwierigkeiten war sie eine gute Schülerin und fühlte sich in unserer Klassengemeinschaft gut aufgehoben und voll akzeptiert.
Wir verabredeten uns am Bergedorfer Bahnhof, um gemeinsam zu Rosas Fete zu fahren. Andy, Friederike und ich waren die Ersten am Treffpunkt, nun fehlten nur noch Marion und Mettel. Wir begrüßten uns artig und unterhielten uns ein wenig.
„Na, alle in Party-Laune?“, fragte Andy obligatorisch.
„Geht so!“, meinte Friederike etwas launisch und fügte für uns völlig unerwartet hinzu: „Mir geht Marion mit ihrer anstrengenden Art momentan echt auf den Keks.“
„Was meinst du mit anstrengender Art?“, hakte ich nach.
„Naja, sie ist immer übertrieben gut drauf und so laut. Sie will ständig etwas unternehmen und wie sie neuerdings immer herumläuft, naja.“
„Na und, früher hat dich das doch auch nicht gestört. Marion ist halt ein fröhlicher Mensch und steckt gerne alle um sich herum mit ihrer positiven Energie an“, entgegnete Andy ihr in bester Partystimmung.
„Das finde ich aber auf Dauer echt stressig.“
„Wenn dich das stört, dann musst du ihr es halt sagen. Dafür seid ihr nun mal Freundinnen! Andy, Mettel und ich haben auch jeder unsere Macken und wenn uns was an dem anderen nicht passt, dann kommt das zur Sprache und gut ist“, erwiderte ich voller Überzeugung und Andy nickte zustimmend. „Na, dann fang ich mal an Rene, also...“, zog er mich auf und feixte sich einen.
„Das muss Marion doch merken, dass sie andere mit ihrem Getue nervt.“
„Also mich nervt sie nicht! Im Gegenteil, ich finde es prima, wenn jemand immer gute Laune verbreitet“, grinste ich.
„Wie ungeil! Das war ja klar, dass du dich wieder auf ihre Seite schlägst“, meinte Friederike etwas abfällig.
In dem Moment kam Marion die Treppe zum Bahnsteig hinauf geschlendert und Friederike trat ihr freudestrahlend entgegen. Sie umarmte Marion innig, als hätten sich die beiden über Monate nicht gesehen und sagte ihr: „Ich habe uns beiden Hübschen ‘nen schönen Piccolo für die Fahrt mitgebracht.“
„Sehr schön!“, freute sich Marion und begrüßte uns anderen ebenso herzlich. Die beiden Mädchen gluckten sofort zusammen und ich verstand die Welt nicht mehr. In einem Moment wird gelästert, was das Zeug hält und eine halbe Minute später wird auf Beste-Freundinnen-Modus umgeschaltet.
Ich guckte Andy nur an und äußerte mich verwundert zu Friederikes Auftritt: „Reife schauspielerische Leistung!“
„Weiber halt! Deswegen wickeln sie uns Männer auch immer um den Finger, wenn sie etwas von uns wollen.“
„Andy, aber mal ehrlich, bist du dir sicher, dass sie diese Nummer nicht mit jedem von uns abzieht?“
„Was meinst du?“
„Naja, hinter dem Rücken des anderen zu lästern und sobald der- oder diejenige erscheint, ist alles chico?“, gab ich Andy mit fragendem Blick zu bedenken.
„Das kann schon sein, aber ganz ehrlich, deswegen lass ich mir nicht die Laune verderben. Sollen die Damen das unter sich klären. Für mich ist der Fall erledigt“, meinte er in seiner üblichen pragmatischen Art.
Eigentlich hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen und ich wollte mir vor der Party über etwaige weibliche Befindlichkeiten auch nicht unnötig den Kopf zerbrechen. „Oh sieh mal, Mettel kommt auch schon und er hat Bier dabei.“
Für den Moment hatten wir das Thema abgehakt und wir Jungs fuhren jeder mit einer Dose Holsten bewaffnet nach Billstedt. Ich fragte Mettel, ob er von Ernie etwas zum Rauchen besorgt hatte und er nickte zufrieden. Nach Bahn- und Busfahrt kamen wir endlich bei Rosa an. Auf der Feier war schon ordentlich der Bär los. Wir waren die letzten Gäste, die in der kleinen Dreizimmerwohnung Platz fanden. Beim Hineinkommen fiel mir ein quirliges Mädchen mit kurzen dunklen Haaren und strahlenden blauen Augen auf, die sich angeregt in der Küche unterhielt. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Ich fragte Rosa gleich, wer das sei. Sie antwortete mit einem frechen Grinsen: „Meine Schwester!“ Jetzt wusste ich auch, weshalb ich vorher meinte, sie bereits zu kennen.
„Wie heißt deine Schwester eigentlich?“, fragte ich Rosa ziemlich plump.
„Jasmin!“
„Und wie alt ist Jasmin?“
„Sie ist vor einem Monat süße sechzehn geworden.“
„Und was macht sie so?“
„Jasmin ist im Sommer mit der Realschule fertig und danach fängt sie eine Ausbildung als Krankenschwester an. Bist du jetzt fertig mit deiner Fragestunde oder muss ich gleich noch ein Formular ausfüllen?“, meinte Rosa lachend.
„Nein, nein, das reicht schon an Informationen. Eine Sache muss ich doch noch wissen. Hat Jasmin einen Freund und was trinkt sie gerne?“
„Das sind aber zwei Fragen. Du machst heute wohl keine Gefangenen“, erwiderte sie auf humorvolle Weise und ergänzte: „Nein, Jasmin hat derzeit keinen Freund. Sie hat sich gerade vor einigen Wochen von ihrem Ex getrennt und auf Partys trinkt sie am liebsten Sekt! Sei aber ja lieb zu ihr, sonst bekommst du es mit mir zu tun.“
„Selbstverständlich! Danke Rosa, du bist ein Schatz! Ich werde dich nicht enttäuschen.“
Da mir das Getue und die Lästerei von Friederike am Bahnhof nicht sonderlich gefallen hatte und ich keine Lust auf erneuten Zoff verspürte, dachte ich mir, wäre es sinnvoll, an diesem Abend meinen Fokus auf ein anderes Mädchen zu richten. Ich legte meine übliche Schüchternheit ab und schnappte mir zwei Gläser Sekt. Mit den von Rosa genannten Rahmendaten ging ich schnurstracks in die Küche auf Jasmin zu.
„Hallo Jasmin, darf ich mich kurz vorstellen?“, sprach ich sie an und bot ihr zeitgleich das mitgebrachte Glas Schaumwein an. Ich dachte, ich hätte das Überraschungsmoment auf meiner Seite, weil ich sie direkt mit Namen ansprach. Ihre Reaktion war für mich allerdings viel verblüffender.
„Hallo Rene, schön dich hier zu sehen!“, antwortete sie mir prompt mit einem zauberhaften Lächeln.
Im ersten Moment war ich völlig irritiert und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte zu gerne mein eigenes Gesicht in diesem Augenblick gesehen. Jasmin lachte, weil sie merkte, dass sie mich mit ihrer Antwort kurzfristig aus der Fassung brachte und sie übernahm sofort das Kommando.
„Wie ich sehe, hast du nicht unbedingt damit gerechnet, dass ich deinen Namen kenne?“
„Ähm, wenn ich ehrlich sein soll, eigentlich nicht.“ Ich war immer noch verdattert, denn weder Rosa noch einer von den anderen hatten vorher mit ihr gesprochen.
„Ich will dich ja nicht doof sterben lassen!“, sagte sie belustigt über meinen gescheiterten Anmachversuch.
„Das