MONDWELT. Daniel Schiller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Daniel Schiller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738060072
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hatten sie beide wenigstens einen Fensterplatz. Das Eis war gebrochen.

      „Über welche Route bist du gekommen?“ fragte Leona.

      „Kapstadt … oder das, was mal Kapstadt war.“

      Das war sie ja auch. „Dann hätten wir uns schon treffen können.“

      „Vielleicht waren wir auf demselben Boot.“

      Sie hatten den gesamten afrikanischen Kontinent durchquert. Flüge gab es nicht mehr. In Zügen, Bussen oder zu Fuß war man unterwegs. Die Reise dauerte lang, sehr lang. Die Ungewissheit, wann sie das Ziel erreichten, ob sie das Ziel erreichten, was der nächste Tag brächte … die Reise dauerte ewig. Zuerst war das nervenaufreibend gewesen. Immerhin war Leona noch nie in Afrika gewesen. Am Ende waren sie dann stumpf, teilnahmslos, fast apathisch jeden Morgen neu aufgebrochen. Irgendwann verlor man jede Orientierung. Die liegengebliebenen Fahrzeuge, die verwüsteten Felder, die leeren Städte, die unzähligen Toten neben den Straßen, die tobenden Stürme und dunklen Wolkenbänke … die Welt starb und die Zivilisation hatte schon ihre Bastionen aufgegeben. Jeder Mensch musste sich entscheiden: flüchten oder eingraben? Die Flucht war ungewiss, über die Kontinente, über das Meer und dann ins All hinüber zur Neuen Welt. Mit Sicherheit konnten nicht alle hinüber. Die Alternative war, sich in Bastionen aus Stahl und Beton zurückzuziehen, oder in Bunker unter die Erde. Solche Enklaven entstanden überall. Aber auch deren Plätze waren begrenzt.

      Beide Wege waren unsicher. Für Leona fühlten sich die Bastionen und Bunker aber wie ein Sterben auf Raten an. Die Neue Welt! Das sagte ihr die Intuition. Nur wer sich nicht entschied, zu spät entschied, würde mit Gewissheit sterben, würde draußen auf der verwüsteten Oberfläche untergehen, hatte ganz sicher keine Chance.

      Leona kannte keinen der anderen Passagiere. Sie hatte auch keinen Kontakt mehr nach Hause, zu niemandem. Ben war bereits im Mittelmeer verschollen … sie hatte keine Familie, keine Freunde, keine Bekannten mehr. Und auch jetzt war sie schon wieder von ihren Begleitern da unten getrennt worden. So zerrissen Familien, Partnerschaften, Freundschaften. Das ganze soziale Gefüge kam durcheinander.

      Ein dumpfe Dröhnen drangen durch die Hülle, fauchende Stöße. Die Wand vor ihr bewegte sich plötzlich … alles bewegte sich. Die Menschen griffen um sich, um sich irgendwo festzuhalten. Jemand rief etwas. Erstaunt? Erschrocken?

      „Wir manövrieren.“, sagte Jan, ganz ruhig. „Das sind die Steuertriebwerke.“

      „Aha.“ Etwas Sinnvolleres fiel Leona nicht ein. Aber sie war irgendwie erleichtert. „Und wer steuert uns?“

      „Der Computer.“, antwortete Jan trocken. „Der weiß, wo wir hinsollen.“

      „Woher weißt du das?“

      „Ich habe die Dinger mit gebaut, zumindest die alten Frachtfähren. Ich wäre selbst zum Mond geflogen, stand schon im Karriereplan … bevor alles schief ging. Aber jetzt komme ich ja auch so dahin.“ War Jan stolz? Er winkte sie zum Bullauge. „Der Ring …“

      Leona blickte wieder zu Erde hinab. „Wir steigen immer noch auf?“, fragte sie verwundert. Die Wolkenschicht lag deutlich tiefer.

      Jan nickte. „Der Start hat uns auf eine weite Ellipse gesetzt.“ Bei technischen Fragen war er in seinem Element. Er malte eine Kurve in die Luft. „Über dem Südpol waren wir knapp über der Atmosphäre. Beim Rendezvous über dem Nordpol werden wir mehrere tausend Kilometer weiter oben sein. Wir müssen den Ring überfliegen.“

      Der Trümmerring … die beiden Einschläge hatten nicht nur die Atmosphäre aufgewühlt, Schockwellen durch die Kontinente geschickt, Flutwellen um den Globus gejagt … sie hatten auch riesige Trümmermengen in die Höhe katapultiert. Das meiste davon war zurückgestürzt, hatte die Zerstörung um den Globus getragen. Aber es war sehr viel, mehr als genug, im Orbit geblieben. Unzählige Gesteinsbrocken umkreisten die Erde, auf wilden Bahnen, durcheinander, noch chaotisch … aber sie begannen schon einen echten Ring zu bilden … und damit die Alte Welt schmücken.

      „Ist das gefährlich?“

      Jan zuckte mit den Schultern. „Schon. Niemand weiß genau, was da alles rumfliegt … und wie hoch. Die Fähren sollen das überfliegen … aber …“

      Ja, es gab immer wieder Verluste, Transporte, die plötzlich verstummten, sei es kurz nach dem Start, oder Stunden später auf der Reise hinaus …

      Die ersten Fragmente wurden sichtbar, Bruchstücke, die im Sonnenlicht glitzerten, immer mehr. Eine ganze Wolke davon schob sich über den Horizont heran. Es war unmöglich ihre Größen oder die Entfernungen irgendwie abzuschätzen. Leonas Herz begann zu pochen. Sie blickte gebannt auf die heran eilende Trümmerwolke. Die Gefahr wirkte so irreal, unwirklich. Nichts passierte, sie hörte nichts, keine Hektik. Und trotzdem … es konnte jederzeit, schlagartig, zu Ende sein …

      *

      Schiff 1533-B flog stabil. Sein Computer wachte über alles. Seine elektronischen Augen schauten ins All hinaus. Unter den Linsen glitt die Wolkendecke der Erde vorbei. Es sah, wie sich die Erde bewegte, wie sich die Position der Sonne verschob, wo die Sterne standen. Es spürte, wie sich das Magnetfeld langsam änderte. Es wusste, wo es war und wie es sich bewegte: i = +89,8°, Ω = -21,0°, ω = 290°, a = 26540 km, e = 0,7527, T = 43028s, θ = 85° und fortlaufend …

      1533-B verstand. Es bewegte sich auf einem elliptischen Orbit, dessen tiefste Stelle sich knapp 200 Kilometer über dem Südpol befand, dessen höchste Stelle mehr als 40 000 Kilometer über dem Nordpol lag. Ein Umlauf dauerte fast 12 Stunden. Gleich überflog es das erste Mal den Äquator. Der Computer rechnete ruhig weiter, wertete kontinuierlich die Sensordaten aus, überprüfte beharrlich den Zustand der Bordsysteme.

      1533-B schickte eine letzte Botschaft zurück zum Startplatz. Alles war in Ordnung. Alle Systeme funktionierten. Die Kreisel kontrollierten die Lage, hielten das Schiff stabil. Es kannte seinen Orbit. Die Trägerrakete hatte 1533-B nicht optimal ausgesetzt, die ideale Trajektorie nicht erreicht. Aber 1533-B war nahe genug an den Zielparametern dran. Es setzte seinen Flug jetzt fort. 1533-B meldete sich ab.

      Der Südpol verschwand hinter dem Horizont. Die Flugbahn führte es immer höher hinauf, immer weiter weg von der Atmosphäre und immer weiter nach Norden. 1533-B richtete seine Aufmerksamkeit nach vorne. Es rief seine Schwesterschiffe und wartete auf deren Antworten. 1533-A war zwanzig Minuten vorher gestartet. C und D folgten jeweils zwanzig Minuten später. 1533-B hörte das erste Signal von A … dann kam das von D … C schwieg.

      1533-B konnte sich keine Sorgen machen. Es stoppte den Ruf auch nicht, denn einen Abbruch konnte es nicht entscheiden. Es rief einfach immer weiter. Aber da würde keine Antwort kommen. 1533-C hatte den Orbit nicht erreicht. In der Boosterstufe des Trägers war eine Anomalie aufgetreten. 1533-C hatte sich noch gelöst und war in die Atmosphäre zurückgestürzt, war zerbrochen, verbrannt, aufgeschlagen. Hatte 1533-C Fracht getragen? Oder Flüchtlinge?

      Die Bordzeit lief weiter. 1533-B folgte stoisch seiner Routine. Alles lief wie ein Uhrwerk. Das Schiff hatte keine Ahnung, dass da Menschen in dem Transportmodul ausharrten, dicht gedrängt, unwissend, meist sorgenvoll. Es kannte nur die Parameter, die für seine Mission relevant waren: die eigene Position, das Ziel, seine Lage und Geschwindigkeit, der Zustand der technischen Systeme. Menschen waren ihm ebenso unbekannt wie der eigentliche Zweck des Flugs. Es verstand nicht die Bedeutung der Mission.

      Nach und nach tauchten Objekte im Sonnenlicht auf. Die Sensoren registrierten mehr und mehr Reflexionen, unzählige Lichtpunkte, massenhaft. Sie strahlten richtig, sättigten die Sensoren, lösten eine ganze Datenlawine im Computer aus. Allmählich wuchsen diese Objekte an, kamen näher, rasten heran. 1533-B analysierte die Bilddaten. Darauf reagieren konnte es jedoch nicht. Selbst wenn eines der Objekte zu nahe kam, 1533-B würde nicht ausweichen. Ausweichmanöver waren nie einfach in so einer komplexen Umgebung. Bei Vorwarnzeiten von Minuten waren sie praktisch unmöglich. Außerdem war gerade genug Treibstoff an Bord, um das Rendezvous über dem Nordpol hinzubekommen. Alle anderen Massereserven waren in die Nutzlast gegangen, es gab kaum Puffer, keine zweiten Versuche und keine Umwege. 1533-B musste sklavisch seiner Trajektorie folgen.