Als der Kristall tiefer in sie Eindrang, begriff er die Zusammenhänge und erfuhr die Gründe ihrer Anwesenheit in diesem Augenblick. Er war über die Maßen verblüfft darüber, was in der Zeit, seit er zerlegt worden war, an die er sich vergleichbar mit einem Traum organischer Lebewesen erinnerte, alles geschehen war. Gleichzeitig stellte er bei ihnen eine merkwürdige Spannung fest. Das hatte mit einem Ereignis zu tun, dass nicht unmittelbar seine »Wiederauferstehung« betraf. Die Gedanken des Mannes waren am deutlichsten und dann begriff der Kristall. In diesem Augenblick sollte ein Vorgang rückgängig gemacht werden, den er selbst vor vielen Jahren verursacht hatte. Natürlich, die Sinaraner wollten ihre Körper zurück.
Der Kristall erschrak. Wie lange war das her? Er forschte weiter in der Erinnerung der beiden Menschen. Wer waren die Oson überhaupt? Wie Sinaraner sahen sie nicht aus, wie die Elveraner, die er kannte, auch nicht. Er entdeckte bei ihnen das Wissen um die Dauer eines Zeitraumes von über eintausendfünfhundert Jahren. So lange war er also in alle Winde zerstreut gewesen? Obwohl er als Kristall in ganz anderen Zeitmaßstäben dachte, war dieser Umstand selbst für ihn unbegreiflich, denn er wusste, dass organische Lebewesen eine weit kürzere Lebensspanne besaßen als er selbst.
Das hatte der Kristall damals nicht gewollt. Natürlich wollte er die Sinaraner verlassen und die Ax´lán kamen ihm als Helfer ganz gelegen. Im Anschluss hatte er mit ihnen noch einigen Spaß gehabt, obwohl sie das bestimmt anders beurteilt hatten, aber das war Geschichte. Also hatten es die Sinaraner nicht geschafft, sich von ihrer Schwäche zu erholen. Ja, jetzt wusste er es wieder. Ihre Seelen hatten sich tatsächlich von ihrem Körper getrennt. So weit sollte die Entwicklung gar nicht gehen. Der Kristall beabsichtigte eine vorübergehende seelische Schwächung, aber keine vollständige Trennung von beidem. Doch damals war es zu spät gewesen, es wieder rückgängig zu machen.
Die Zeit, in der er zerlegt war, verbrachte er wie in einem Traum. Seine Handlungsmöglichkeiten waren eingeschränkt und er vergaß vieles, an das er sich jetzt erst wieder erinnern musste. Er sehnte sich nach der Ruhe seines zukünftigen Bestimmungsortes. Aber ihn erfüllte jetzt auch ein schlechtes Gewissen gegenüber den Sinaranern. Er musste wieder gut machen, was er ihnen angetan hatte. Doch dazu musste er erst einmal herausfinden, was gerade vor sich ging.
Der Kristall zog seine geistigen Fühler von den beiden Menschen zurück und spürte der Energie nach, die er beständig verlor.
„Hast du das auch gefühlt?“, fragte Taligh verblüfft. „Irgendetwas hat sich einen kurzen Augenblick in meinen Gedanken befunden. Es kam von außen. Jetzt ist es wieder fort.“
„Ja, auch ich habe es gespürt. Fragen. Es versuchte, seine Fragen mit meiner Erinnerung zu beantworten. Es war sanft und nicht fordernd. Seltsam.“
„Glaubst du, es war der Kristall?“
Neneema zuckte mit den Achseln.
Die geistigen Fühler des Kristalles erreichten die Geräte, die die Körper der Sinaraner am Leben erhalten hatten, und drangen in die Körper ein. Erschrocken bemerkte er plötzlich die Todesqualen der Sinaraner. Die Seelen waren tatsächlich zurückgekehrt, aber um welchen Preis. Die Kraft, die sie dem Kristall entzogen, war eine andere, als die, die sie berechnet hatten. Es blieb nicht mehr viel Zeit. In wenigen Augenblicken mussten die Körper ihre Lebensfunktionen einstellen.
Der Kristall änderte im letzten Augenblick seine Frequenz, verringerte die Schwingungen und passte sie den Körpern an. Er blockierte die Apparaturen, schaltete sie ab und ließ nur noch seine eigenen Kräfte wirken. Allmählich wurden die Schwingungen zwischen den Seelen und den Körpern harmonischer. Er spürte die Erleichterung der Sinaraner. Der Kristall ließ seine Fühler von einem zum nächsten wandern, überprüfte die Lebensfunktionen, änderte, was geändert werden musste, und glich an, was notwendig war. Zufrieden stellt er fest, dass alles wieder gut war. Die Rückkehr der Seelen in ihre Körper war im letzten Augenblick gelungen.
Für eine kurze Zeit schickte er sie in einen traumlosen Schlaf und zog sich dann wieder von ihnen zurück. Jetzt konnte er diesen Ort verlassen. Jetzt konnte die Verwandlung Elverans beginnen. Der Kristall machte sich auf den letzten Weg, den Weg zu dem Herrscher über diesen Planeten.
Unterwegs machte er eine überraschende Entdeckung. Er war nicht das einzige Energiewesen auf dem Planeten, das ihn von außerhalb erreicht hatte. Es gab ein weiteres, ihm ungewöhnlich ähnlich, und wie der Kristall spürte, streckte es seine suchenden Fühler nach ihm aus. Dieser Sache musste der Kristall zuerst auf den Grund gehen.
Der goldene Schein, der den Raum erfüllt hatte, verschwand übergangslos. Neneema nahm die Tönung aus den Fenstern des Glasschrankes heraus, aber daran hatte es nicht gelegen.
„Er ist weg!“, sagte Taligh überrascht. „Einfach verschwunden!“
So war es. Neneema war nicht weniger überrascht. Plötzlich fielen ihr die Sinaraner ein. War ihr Vorhaben geglückt? Beseelten sie wieder ihre Körper? Einen Augenblick war sie ratlos. Einerseits wollte sie nachsehen, wie es den Sinaranern erging, andererseits war ihre Anordnung eindeutig gewesen. Sie durften den Raum, in dem ihrer Körper aufbewahrt wurden, nicht betreten, sondern mussten warten, bis die Sinaraner von selbst herauskamen. Aber wenn etwas Unvorhergesehenes geschehen war? Wenn sie ihre Hilfe brauchten? Das plötzliche Verschwinden des Kristalles hatten sie bestimmt nicht eingeplant, sonst hätten sie ihnen davon erzählt.
„Egal“, sagte sie entschlossen. „Wir schauen nach. Komm mit.“
Taligh erinnerte sich zwar auch an den Befehl der Sinaraner, aber auch er betrachtete das Verschwinden des Kristalles als ein unvorhergesehenes Ereignis.
Der Raum war nur trübe beleuchtet und es war buchstäblich totenstill. Beide hätten eigentlich die Geräusche der lebenserhaltenden Geräte erwartet, die neben jedem Bett standen, auf dem ein Sinaraner lag. Oder waren es doch nur ihre toten Körper? Mit plötzlichem Erschrecken kam ihnen der Gedanke, dass der Versuch gescheitert war. Die Geräte hatten Schaden genommen, die Körper waren tot und die Geister der Sinaraner waren irgendwo, von wo aus sie keine Verbindung mehr zu ihnen aufnehmen konnten.
Taligh und Neneema gingen von einem Lager zum nächsten und stellten etwas Merkwürdiges fest. Die Sinaraner atmeten. Sie machten alle den Eindruck, als würden sie nur schlafen. Ihre Gesichter zeigten auch nicht die blassgraue Farbe des Todes.
„Die Geräte sind aber eindeutig abgeschaltet“, stellte Taligh fest. „Äußerlich ist kein Schaden festzustellen, also müssen sie von innen abgeschaltet worden sein. Hoffentlich nicht durch einen technischen Defekt.“
„Falls es so war, dann kann es erst während des Prozesses geschehen sein“, meinte Neneema. „Weder Osir noch Gnum haben einen Ausfall der Geräte erwähnt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie alle ausgefallen sein sollen. Ich habe aber auch keine bessere Erklärung.“
„Ja, und wäre es schon vorher so gewesen, dann hätten sie ihn vielleicht gar nicht mehr unternommen, weil die Körper zerstört gewesen wären.“
„Das ist zu vermuten“, gab ihm Neneema Recht. „Ich habe festgestellt, dass alle dreiundzwanzig Körper die gleichen Lebenszeichen von sich geben. Sie schlafen. Vielleicht haben sich die Geräte automatisch abgeschaltet, als sie merkten, dass sie nicht mehr gebraucht wurden.“
„Ich hoffe, dass der Geisteszustand der Sinaraner nicht allzu sehr gelitten hat, auch wenn alles gut ausgegangen ist. Aber ich rate davon ab, sie aufzuwecken, um das festzustellen. Wahrscheinlich brauchen sie diese Ruhephase.“
Neneema und Taligh verließen den Raum wieder. Auf den ersten Blick schien jedenfalls alles in Ordnung zu sein. Jetzt mussten sie warten, bis die Schläfer von allein erwachten. Hoffentlich dauerte es nicht zu lange. Sie mussten auf der ZETRIS unbedingt feststellen, ob der Kristall irgendwo zu orten war. Wenn er beständig so viel Energie abstrahlte, wie er es in dem