Die vom Tod verschmähte Katze. Matthias M. Rauh. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias M. Rauh
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738091663
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vor, was dann geschähe: Jede Uhr könnte dann einfach im nächsten Augenblick stehenbleiben, aber auch mitten in der Nacht. Man würde es vielleicht tagelang nicht bemerken. Wenn ich aber weiß, wann sie ihr Ende erreicht, kann ich sofort eingreifen und ihr neues Leben einhauchen. Und außerdem ist es ein Moment der absoluten Macht, der einem die Fähigkeit verleiht, der Zeit auf eine gewisse Art und Weise ein Schnippchen zu schlagen, wenn auch nur symbolisch. Ein kleines symbolisches Schnippchen eben, wenn Sie verstehen, Herr...äh..."

      Valentin schüttelte den Kopf.

      "Ich brauche dann nur am Zeiger zu drehen, schon ist die verlorene Zeit wieder aufgeholt. Verstehen Sie? So kann man sie überlisten, wie gesagt, im übertragenen Sinne zumindest. In diesem Augenblick habe ich sozusagen die Macht über sie. Macht über etwas, das nicht zu bändigen ist. Das ist bei der Zeit so ähnlich wie mit dem Tod. Jeder weiß, dass er unerbittlich ist und in keinster Weise mit sich handeln lässt. Man kann ihm einfach nicht entkommen. Aber wie wäre es, wenn man ihn, statt ängstlich auf seine Ankunft zu warten, bestellt wie einen billigen Laufburschen und ihm befiehlt, seine Sense gefälligst dann zu schwingen, wenn es einem selbst am besten...oh, Verzeihung."

      Der Junge verzog das Gesicht, während sich der Alte kurz räusperte. Er konnte wohl, wenn man ein Gespräch über die Zeit mit ihm führte, selbige ganz schnell vergessen. Valentin nahm sich vor, das Thema in Zukunft zu vermeiden. Der Mann war zweifellos verrückt.

      "Oh", fasste sich Herr Zacharias wieder. "Ich hoffe, ich habe Sie mit meinen Gedanken über den Tod nicht zu sehr verängstigt, Herr...äh..."

      "Nein, nein", ächzte Valentin.

      Wieder zerrte er am lästigen Kragen seines dunkelgrünen Anzugs, der zum Thema Zeit sicher auch einiges beizutragen gehabt hätte: Von Urgroßmutter einst noch liebevoll aufgebügelt, anschließend siebzig Jahre aufbewahrt - post mortem sozusagen - und konserviert durch nichts als Dunkelheit und Mottenkugeln. Das Ding kratzte an allen nur erdenklichen Stellen! Aber der Antiquitätenhändler bestand darauf, dass sein Angestellter dem übrigen Interieur entsprechend gekleidet war. Die lächerliche Ruderclub-Krawatte mit den cremefarbenen Rauten machte es nur noch schlimmer. Kein Wunder, dass die Leiter Mordgelüste gegen ihn hegte!

      "Haltung bewahren, das ist es, worauf es im Leben ankommt", begann Herr Zacharias von Neuem. "Haltung, in jeder Sekunde, unaufhörlich, so wie die Zeit. Das ist der Schlüssel zu allem Erstrebenswerten. Und äußerste Vorsicht bitte. Diese Werke dort oben sind noch handschriftlich verfasst."

      "Sehr wohl", ächzte Valentin.

      So machte er sich wieder an seine Arbeit - Bücher abstauben und nach Papierkäferlarven Ausschau halten (wobei er nicht die geringste Ahnung hatte, woran man die überhaupt erkennen konnte). Diese Tätigkeit war sterbenslangweilig. Doch zumindest glaubte Valentin, dass die unsichtbare Mauer, die zwischen ihm und dem Antiquitätenhändler stand, gerade ein wenig an Höhe verloren hatte. Der Alte war ziemlich verschroben, aber das war wohl völlig normal, wenn man sein ganzes Leben in einer derart traurigen Umgebung fristen musste.

      Das Abstauben der Bücherregale war jedoch nicht Valentins einzige Aufgabe. Er hatte natürlich auch jene Tätigkeiten zu erledigen, die die Würde des vornehmen Herrn Zacharias untergraben hätten. Da gab es den Eingang, der stets gefegt werden musste und den Fußabstreifer, den er täglich auszuklopfen hatte. Und da war noch etwas, eine kleine Unannehmlichkeit, wie es der Antiquitätenhändler zu umschreiben pflegte. Und diese Unannehmlichkeit fiel aus heiterem Himmel herab, immerzu und sehr zum Ärger des peniblen Geschäftsführers.

      Es waren die Hinterlassenschaften der Krähen, die unentwegt vor dem Schaufenster herabfielen - eine weitere unerklärliche Eigenheit dieses Ladens. Denn das Dach des altehrwürdigen Stadthauses war, warum auch immer, über und über von Rabenkrähen bevölkert.

      Diese Tiere waren eine echte Plage, tummelten sie sich doch ausschließlich auf dem Dach dieses Hauses. Den Grund für dieses absonderliche Verhalten konnte sich Valentin nicht erklären. Es gab hier nichts zu fressen und auch keine Bäume, in denen sie Nester bauen konnten. Es existierte an diesem Ort rein gar nichts, was ihm aus Krähensicht attraktiv erschien - und trotzdem waren sie allgegenwärtig, eine echte Plage eben.

      Herr Zacharias hatte vor wenigen Tagen sogar einen Fachmann für Ungeziefer-Vernichtung beauftragt, sich des lästigen Problems anzunehmen (wie er es formulierte). Doch die seltsamen Tiere besaßen offenbar so etwas wie ein Gespür für heraufziehende Gefahren. Der Mann kam, inspizierte das Dach und musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Kein einziger Vogel hatte sich während seiner Gegenwart mehr blicken lassen.

      Doch kurz nachdem er gegangen war, ging das Gekrächze in luftiger Höhe von Neuem los, worauf sich Herr Zacharias gezwungen sah, abermals zum Hörer des würdevollen Telefons zu greifen.

      Da hilft kein Giftköder, lautete der Kommentar des leicht genervten Experten, da die Tiere seiner Einschätzung nach gut organisiert wären und einen Vorkoster in ihren Reihen hätten. Diesen würde man sicher erledigen können, aber das wäre es dann auch schon gewesen. Der Mann meinte, dass man Krähen nicht umsonst die Fähigkeit nachsagte, Schlussfolgerungen zu ziehen...

      Anschließend war er auf das Dach gestiegen, um dort eine wahrhaft furchteinflößende Vogelscheuche zu errichten. Das wird die Viecher vertreiben, hatte er prophezeit und dem Antiquitätenhändler eine gesalzene Rechnung geschrieben.

      Nun gilt es als höchst ungewöhnliche Maßnahme, Vogelscheuchen auf Dächern zu beherbergen, aber Valentin fand, dass das Ding sehr gut zu dem alten Stadthaus passte. Es war ein schäbiges, in Lumpen gekleidetes Holzgerippe mit einem vertrockneten Kürbiskopf, welches der Mann einfach an die Dachantenne gebunden hatte. Es baumelte dort wie an einem Galgen, und wenn man genauer hinsah, dann konnte man sogar erkennen, dass irgendein seltsames Kraut aus seinem fratzenartigen Kopf wucherte. Bei einem Gewitter musste der Anblick wahrhaft furchteinflößend gewesen sein, da es schon bei jedem noch so schwachen Windstoß zu wackeln begann. Irgendwie schien es dem bizarren Strangulienchen dort oben so richtig zu gefallen. Wahrscheinlich vertrieb es sich die Zeit damit, Blitze einzufangen und sich über die vorbeiziehenden Passanten lustig zu machen.

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      Hätte Herr Zacharias nur einen einzigen Blick auf das Dach seines Hauses geworfen, wäre er sicher sehr empört gewesen. Aber der Alte ahnte offenbar nichts von besagter Maßnahme, sondern kümmerte sich lieber um seine geliebten Uhren. Valentin war sich jedoch sicher, dass es bald Ärger mit dem Ordnungsamt geben würde, schließlich haben Vogelscheuchen nunmal rein gar nichts auf Stadthausdächern verloren. Und dieses Gerippe trug zweifellos das Potenzial in sich, bei einem Sturm ungefragt den Standort zu wechseln...

      Im Kampf gegen die verhassten Krähen erwies sich die Vogelscheuche übrigens als völlig unbrauchbar, da die Tiere den zerfledderten Gast schnell in ihr geheimnisvolles Krähenherz geschlossen hatten. Und so fiel eben weiter munter Vogeldreck vom Dach.

      Als wieder einmal ein besonders üppiger Klatscher das Schaufenster besudelte, legte der Alte seine Zeitung beiseite und machte seinen Angestellten darauf aufmerksam: "Wenn Sie bitte diese Unannehmlichkeit beseitigen würden, Herr...äh..."

      Kurz darauf stand sein Gehilfe bei brütender Hitze vor dem Schaufenster und versuchte, das Ärgernis von der Scheibe zu wischen. Dies war widerlich und hochriskant, da man dabei natürlich Gefahr lief, von weiteren Unannehmlichkeiten getroffen zu werden. Und so kam es, wie es kommen musste - nur weitaus perfider als gedacht...

      "He, du!", rief da plötzlich eine Stimme. "He du, mit dem blassen Gesicht..!"

       Das Unglück sollte nun über den plumpen Jungen hereinbrechen, ganz leise, aus dem Hinterhalt, und es hatte sich dabei noch eine recht hübsche Verpackung ausgewählt: Mädchen.

      Sie kamen einfach wie aus dem Nichts dahergelaufen, so als hätten sie ihr ganzes Leben nur auf diesen einen Moment gewartet. Es waren keine gewöhnlichen Mädchen, sondern zwei wahrhaft umwerfend aussehende Exemplare vom Typ Mitten-in-den-Sommerferien, die einem im wahrsten Sinne des Wortes die Kinnlade herabfallen lassen konnten - mit langen