Nach einer halben Ewigkeit stieß er auf eine Treppe, die hinaufführte. Sie mündete in einen Gang, in dem er endlich wieder aufrecht gehen konnte. Bald wurde es heller. Dort vorne beleuchteten Lampen eine silbern polierte Tür. Als Luan auf sie zuging, glitt die Tür wie von Geisterhand auf. Luan trat ein.
Seine Füße sanken in einen weißen Flauschteppich. Luan stand in einem riesigen Wohnzimmer. Es war das altmodischste Wohnzimmer, das Luan jemals gesehen hatte. Der Esstisch schwebte nicht, sondern stand auf vier Beinen. Das orangefarbene Knautschsofa bestand noch aus echten Polstern, nicht aus virtuellem Sitzschaum. Und statt eines Hologramm-Projektors hing ein uralter Flachbildfernseher an der Wand. Museumsreife Lampen mit Glühbirnen tunkten das Wohnzimmer in ein zugegebenermaßen gemütliches Licht, fand Luan. Das Seltsamste aber waren die Autoscooter, die im Raum verteilt herumstanden. Luan hatte keine Ahnung, wo er war.
Da wurde eine Tür mit Schwung aufgerissen. Der Mann im lila Samtanzug trat ein. Nervös strich sich Luan die Haare aus der Stirn.
In der Hand hielt der Mann ein Marmortablett, darauf stand ein Teller, über und über beladen mit Blaubeerpfannkuchen. Sie dufteten köstlich. Auf der linken Schulter des Mannes saß eine Ratte. Die Ratte hatte eine rot gefärbte Irokesenfrisur. Misstrauisch äugte sie auf Luan herab.
„Setz dich, mein Junge, setz dich“, brummte der Mann und deutete auf das Sofa.
„Du magst sicher noch ein paar von den Dingern“, sagte er und stellte den Teller mit mindestens einem Dutzend Blaubeerpfannkuchen auf den kleinen Couchtisch, der in dem flauschigen Teppich zu versinken schien.
Das ließ sich Luan nicht zweimal sagen. Wer Blaubeerpfannkuchen verschenkte, konnte kein schlechter Mensch sein. Luan ließ sich auf das Sofa fallen und fischte nach einem Pfannkuchen.
„Der Weg durch den Wartungsschacht ist vielleicht ein bisschen eng, aber immer noch komfortabler als das Gedränge am Hauptausgang. Zurzeit kontrollieren die Sipos jeden, der hinaus möchte. Sie suchen irgendjemanden. Früher habe ich auch immer den Weg durch den Wartungsschacht genommen. Aber mittlerweile habe ich wohl ein paar Kilo zu viel auf den Rippen.“ Der Mann schüttelte sich und lachte. Die Knöpfe seines goldenen Hemdes vibrierten. Der Zwirn, der sie hielt, sirrte wie eine gespannte Gitarrensaite.
„Schmecken die Blaubeerpfannkuchen, Luan?“, fragte der Mann.
Luan erschrak. Woher kannte der Mann seinen Namen? Er hatte ihn bestimmt nicht zufällig herausgeschmuggelt. Vielleicht war er vom Geheimdienst oder Detektiv und suchte ihn im Auftrag von Mama Berta? Unsicher stopfte Luan ein großes Stück Pfannkuchen in den Mund. Luan wollte Zeit gewinnen, abwarten, was der Mann von ihm wollte. Luan nickte und murmelte etwas wie: „Mmhhm.“
Der Mann griff in die Innentasche seines Sakkos und zog eine Tube Senf heraus, extra scharf. In aller Ruhe schraubte er die rote Kappe ab. Er presste ein wenig Senf heraus und hielt die Tube seiner Ratte hin. „Feines Fresserchen, Rüdiger“, murmelte er, als wäre es das Normalste auf der Welt. Die Ratte mit der Irokesenfrisur stürzte sich auf den Senf und mümmelte an der Tube.
Mit dem roten Senfdeckel in der Hand deutete der Mann auf Luans Handgelenk und meinte: „Cooles Teil.“
Schon wieder ging es um sein ceeBand. Trotzig erklärte Luan: „Das hab ich nicht gestohlen. Ganz bestimmt nicht. Ich habe das ceeBand selbst gebaut. Ich kann so etwas, das müssen Sie mir glauben!“ Blaubeermarmelade lief Luan über das Kinn.
Beschwichtigend hob der Mann die Hände. Die Ratte quiekte. Sie kam nicht mehr an den Senf heran.
„Hatte mir schon so etwas gedacht“, murmelte der Mann und hielt Rüdiger die Tube wieder vor die Schnauze. „Aber du hast Angst, dass die Sipos dir nicht glauben?“, fragte er und zog dabei die Augenbrauen so komisch hoch.
„Weiß nicht, was die von mir wollten. Ich habe das ceeBand wirklich nicht geklaut. Die Mädchen haben mich angeschwärzt. Die mit dem weißen Kristall und ihre Freundin mit den lila Haaren“, sagte Luan. Er fühlte sich unsicher. Hatte er schon zu viel gesagt? Wer war dieser Mann?
Der Mann legte die Senftube auf den Tisch, direkt neben Luans Pfannkuchenteller. Die Ratte huschte über den Ärmel des lila Samtanzugs hinunter und hockte sich zwischen Pfannkuchen und Senf.
Unauffällig schob Luan seinen Pfannkuchenteller zur Seite.
„Brauchst dir keine Sorgen zu machen, Rüdiger mag keine Pfannkuchen“, sagte der Mann und zog seinen dünnen Pferdeschwanz zurecht.
„Ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Kalawesi“, sagte der Mann und lachte dröhnend, als wäre ihm ein besonders guter Witz gelungen.
Luan nahm den letzten Blaubeerpfannkuchen vom Teller und biss ab.
„Hast wohl ganz schön Schiss vor den Sipos, dass du einfach mitkommst. Du kennst mich überhaupt nicht. Ich könnte ein Verbrecher sein. Lungern viele hier herum“, sagte Kalawesi und sah Luan scharf an. Kalawesi stand auf und ging um Luan herum, blieb hinter ihm stehen. Er legte seine Hände auf die Sofalehne. Aus den Augenwinkeln sah Luan Kalawesis behaarte Finger.
„Die beiden Mädchen wollten mich drankriegen“, versuchte sich Luan zu verteidigen.
„Ich habe gesehen, wie du den Berg umprogrammiert hast“, sagte Kalawesi lauernd.
Luan biss sich auf die Lippe. Die Blaubeermarmelade auf dem Kinn sah nach Blut aus. Seine Finger trieften vor Fett. Wie konnte Kalawesi das gesehen haben?
„Weißt du, ich bin der Boss vom Lunapark“, sagte Kalawesi sanft. „Mir gehört der Park. Der Golden Surfer ist meine neueste Attraktion. Die Leute lieben ihn, sind ganz verrückt auf den weißen Berg. Meine besten Programmierer haben ihn über Jahre entwickelt, und du spazierst einfach herein und fummelst in dem erstklassig abgesicherten Programm herum. Was bist du für ein Junge?“ Nun wurde Kalawesi immer lauter. Er ging um Luan herum und drückte seinen dicken Zeigefinger auf Luans Brust.
Luan versuchte auszuweichen und schob sich zur Seite. Er schluckte. Der Bissen wollte nicht hinunter. Luan musste husten. Kalawesi patschte ihm seine Hand so fest auf den Rücken, dass er den Pfannkuchen wieder auf den Teller spuckte. Luans Rücken fühlte sich an, als hätte ihn ein Pferd getreten.
„Aber…“, hustete Luan unsicher.
„Nichts aber. Ich dulde keinen Widerspruch“, dröhnte Kalawesi. „Du bist ein verdammter Teufelskerl. Nur keine falsche Bescheidenheit. Ich brauche solche Programmierer wie dich. Hier im Lunapark. Jetzt.“ Dabei donnerte Kalawesi mit der Faust auf den Tisch. Er traf die Senftube und eine große Senfwurst spritzte durch das Zimmer. Rüdiger quiekte aufgeregt und begann den Senf vom Tisch zu lecken.
Luan verstand nicht. Der Chef des Lunaparks wollte ihn als Programmierer anheuern, einfach so? Das konnte doch nur ein Scherz sein.
„Du wirst ordentlich bezahlt. Wenn du fleißig bist, mache ich dich richtig reich“, sagte Kalawesi und legte Luan seine Hand auf die Schulter, als wären sie schon seit Jahren die besten Freunde.
Luan schluckte. Warum hatte ihn Mama Berta von der Kristallfeier ausgeschlossen? Warum nur? Dieser Kalawesi bot ihm den absoluten Wahnsinnsjob an und er konnte ihn nicht annehmen, weil er nicht zur Gesellschaft gehörte, nie dazugehören würde. Und alles nur wegen ein paar Euro, die er sich von der Köchin ausgeliehen hatte.
„Das geht nicht“, murmelte Luan. „Wegen … Es ist wegen der Kristallfeier. Frau Bertowa hat mich ausgeschlossen. Dabei habe ich mir das Geld doch nur geliehen. Ehrenwort.“
Kalawesi lehnte sich zurück und lachte, dass beinahe das ganze Wohnzimmer wackelte: „Das geht nicht, das geht nicht, das geht nicht.“ Dazwischen japste er immer wieder nach Luft. „Wenn ich damals so gedacht hätte, gäbe es heute keinen Lunapark. Hör zu, mein Junge. Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich? Natürlich weiß ich, dass du Luan heißt und von den Häppy Kidz abgehauen bist. Natürlich weiß ich, dass die alte Bertowa