„Dann mal an die Arbeit“, sagte Greta und Izzy gab Gas. Sie hatten drei Plätze in der Nachmittagsmaschine nach Paris gebucht. Von dort aus konnte man jeden Punkt der Erde in wenigen Stunden erreichen. Die Jagd hatte begonnen.
03 DAS GEMÄLDE
Endlich erreichen wir das Tor zum Louvre am Place du Carrousel. Ich bin fußlahm. Meinen nassen Schuh habe ich inzwischen halbwegs trocken gelaufen. Er gibt beim Gehen keine quietschenden Geräusche mehr von sich, dafür hat sich aber die Socke als gekringelte Wurst nach vorne zu den Zehen hin verabschiedet. Ich habe nur noch einen Wunsch: Ich will mich irgendwo hinsetzen und den Schuh los werden, um endlich diese verfluchte Socke wieder hochzuziehen.
„Boah!“ sagt Bea, „ich muss mich setzen, ich kann nicht mehr!“
„Ich auch“, stöhne ich, „Ich muss unbedingt meinen blöden Schuh ausziehen. Ich glaube, ich hab mir eine Blase gelaufen.“
Auch die andern jammern und schnaufen gequält.
Madame Ulliette, die mit unverminderter Energie vor uns hermarschiert, dreht sich um und bleibt stehen. „Nun stellt euch doch nicht so an, war doch nur ein kurzer Weg!“, grinst sie herausfordernd.
„Ja, ja“, meint Daniel, der längste aus unserer Klasse, ein dunkelhaariger, sympathischer Kerl mit tiefer warmer Stimme, „ein kurzer Weg für Madame Ulliette, aber ein langer Weg für die Menschheit!“
„Ach Daniel!“ Madame Ulliette hebt kopfschüttelnd die Augenbrauen. „Du immer mit deinen theatralischen Kommentaren!“
„Wir können aber wirklich nicht mehr!“, jammert Coco und wir alle brechen wie auf Verabredung in verzweifeltes Stöhnen und Seufzen aus.
„Na gut!“ Madame Ulliette verzieht missmutig das Gesicht und verdreht die Augen, „dann setzen wir uns eben einen Moment hier auf die Treppen.“ Kaum hat sie diese Worte ausgesprochen, stürmen wir zu den Treppenstufen und lassen uns dort fallen wie hingeschlachtete Lämmer.
„Ihr solltet Komiker werden mit eurem Sinn für melodramatische Posen“, murrt sie, „man meint gerade, ich hätte euch im Zweitagesmarsch von Paris nach St. Petersburg geführt!“ Kopfschüttelnd schaut sie uns an. „Keine Kondition mehr, diese Jugend! Aber bis in die Nacht hinein am PC hocken!“
„Da müssen wir uns ja auch nicht bewegen, da können wir mit ein paar Mausklicks die Welt erforschen“, meint Daniel leise.
Mit den Worten „Diese Jugend“, betrachtet unsere Lehrerin aufseufzend die große gläserne Pyramide, in der der Eingang zum Louvre liegt. Schließlich lässt sie sich am Rand der Treppe auf einer Stufe nieder. „Sagt mir Bescheid, wenn ihr armen alten jungen Leute euch ein wenig erholt habt!“, meint sie noch, faltet die Hände über ihrem Bauch, lehnt den Kopf seitlich an die Mauer und schließt die Augen.
Daniel sitzt hinter mir auf der Treppe und stellt mir seine Knie als Rückenlehne zur Verfügung, nachdem ich endlich meine blöde Socke wieder in Ordnung gebracht habe. Eine Wohltat!
Daniel beugt sich vor und flüstert mir leise ins Ohr: „Die hat aber auch einen Sinn für melodramatische Posen.“
„Das habe ich gehört!“, brummt Madame Ulliette mit geschlossenen Augen.
„Hat einer von euch was zu trinken mit? Ich hab Durst“, jammert Coco nach einer Weile.
„Und ich hab Hunger“, murmelt Bea neben mir.
„Stellt euch vor, ich hab beides“, seufzt Hervé auf.
Madame Ulliette steht schwungvoll auf und klatscht in die Hände. „Also bevor ihr jetzt hier alle vollkommen schlapp macht, gehen wir lieber rein.“
Murrend erheben wir uns und folgen ihr in die Glaspyramide.
„Du hattest doch Durst“, grinst Daniel zu Coco hinüber und deutet auf die Wasserbecken, die die Pyramide symmetrisch umgeben.
„Ha, ha, sehr witzig“ brummt Coco und boxt ihn in die Seite.
„Benehmt euch jetzt aber!“, mahnt uns Madame Ulliette mit erhobenem Zeigefinger. Sie geht vor, und wir fahren mit der Rolltreppe in die Halle unter der gläsernen Pyramide.
„Ob der niedliche Typ noch da ist, der die Multimedia-Führer ausgibt?“, flüstert Bea mir grinsend zu und reckt den Hals, um besser sehen zu können.
„Findest du den echt gut? Der hat doch’n Bart.“
Bea zuckt mit den Schultern. „Na und?“
Madame Ulliette verteilt die Tickets. „So Kinder, ihr wisst Bescheid. Wie es läuft, haben wir ja gestern schon besprochen. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch einen Führer holen, ihr könnt aber auch so losmarschieren. Ihr habt zwei Stunden Zeit. Also ab jetzt“, sie schaut auf ihre Armbanduhr, „bis 16.00 Uhr wieder hier in der Halle. Ich hoffe, ihr habt auch alle was zu schreiben mit.“ Skeptisch verzieht sie den Mund und hebt eine Augenbraue.
„Also ich hole mir so einen Multimedia Guide“, verkündet Bea und geht los. War ja klar.
„Oh Mann, wir waren doch schon so oft hier!“, maule ich.
Statt einer Antwort dreht sich Bea nur um und zwinkert mir grinsend zu, während sie rückwärts weitergeht.
Ich hab’s kommen sehen: Als sie sich wieder umdreht, rennt sie mit voller Wucht gegen einen älteren Japaner. Der Mann verbeugt sich ganz erschrocken immer wieder vor ihr, wobei er aufgeregte Worte murmelt.
Bea steht ganz verdattert vor ihm, ringt die Hände und stottert mit hochrotem Kopf „Entschuldigung! Sorry! Pardon!“ Hilflos sieht sie zu mir rüber. „Lach nicht, du dumme Kuh, er hört gar nicht mehr auf, sich zu verbeugen. Sag mir lieber, was Entschuldigung auf Japanisch heißt.“
„Woher soll ich das ...“
„Shazai“, unterbricht mich Daniel, als er neben mich tritt. Klar, dass er das weiß. Sein Vater ist Diplomat, und er ist in vier verschiedenen Ländern aufgewachsen. Wahrscheinlich kennt er auch alle Flüche, die brasilianische Taxifaher so draufhaben.
„Shazai? - Echt?“ Bea zögert zweifelnd, versucht es dann aber doch mit diesem Wort, einem freundlichen Lächeln und einer leichten Verbeugung. Der Japaner lächelt zurück und geht, sich nochmals verbeugend, seiner Wege.
Sichtlich erleichtert dreht sich Bea wieder zu uns um. „Ich hatte schon fast mit einer Ohrfeige gerechnet“, sprudelt sie hervor, „Ich trau dir nämlich nicht, mein Lieber!“
Daniel grinst nur.
„Was grinst du denn so, das hieß doch wirklich Entschuldigung oder?“ Bea ist immer noch misstrauisch und schaut sich nach dem Japaner um, aber der ist inzwischen in der Menge verschwunden.
„Nun hol schon deinen Guide, damit wir endlich loslegen können, wir haben nicht viel Zeit“, drängele ich.
„Nee, da geh ich jetzt nicht mehr hin, nach dem Auftritt, das ist mir zu peinlich.“ Bea schüttelt den Kopf, wobei sie schon wieder ganz rot wird.
„Der hat das doch gar nicht gesehen bei dem Andrang, nun geh schon“, fordere ich sie auf.
„Nö!“ Bea schüttelt trotzig den Kopf und strebt schon der Rolltreppe zu, die uns in den Sully Flügel bringt.
„Wer hat was nicht gesehen?“, fragt Daniel neugierig.
„Du musst nicht alles wissen“, grinse ich ihn an und folge Bea.
Zu dritt erreichen wir schließlich die Säle, in denen Werke der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts zu sehen sind. Bea und ich sinken auf die erstbeste Bank.
„Mann, ich kann nicht mehr“, stöhne ich verzweifelt.
„Da war er ja schon wieder“, sagt Bea plötzlich. „Kann es sein, das der was von dir will?“
„Was?