DIE GABE. Michael Stuhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Stuhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847627234
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schwimmen gehen wollte. Keine der armseligen Landratten aus Saint Malo wäre jemals auf die Idee gekommen, sich dem Wasser anzuvertrauen. Nicht im Sommer und schon gar nicht jetzt im März, wo in der Mündung der Rance immer noch dünne Eisschollen trieben.

      Kaum einer der Küstenbewohner konnte überhaupt schwimmen und sogar die Besatzungen der Handelssegler und Kaperfahrer lehnten es ab, sich in dieser Kunst ausbilden zu lassen. Man war allgemein der Überzeugung, dass es angenehmer sei, bei einem Schiffsuntergang sofort zu ertrinken, als sich unnütz zu quälen und schließlich doch elend abzusaufen, oder – schlimmer noch – den Dämonen des Meeres in die Hände zu fallen.

      An der Bewegung des Bootes erkannte Taureau, dass das Wasser auf das Meer hinauszuströmen begann. Es wurde Zeit, denn er hatte die Absicht, sich von der starken Ebbeströmung weit hinausbringen zu lassen. Dort draußen, wo das Meer noch sauber und nicht von den Abwässern der Stadt verunreinigt war, wollte er den Tag verbringen und am Abend wieder mit der auflaufenden Flut zur Mündung der Rance zurückkehren.

      Die flachen Brandungswellen zu durchqueren war für den geübten Segler kein Problem. Leise knirschend schob sich der Bug der Taurillon in den Sand. Taureau sprang aus dem Boot und sicherte es, indem er einen kleinen Anker etwa dreißig Schritt weit den Strand hinauftrug, wo er ihn einfach fallen ließ. Das würde reichen, denn das Wasser strömte nun schon mit Macht auf das Meer hinaus und nach kurzer Zeit würde das Boot völlig auf dem Trockenen liegen.

      Nun galt es, keine Zeit zu verlieren.

      Mit ruhigen Bewegungen streifte Taureau Umhang, Gehrock und Hemd ab, legte sie auf eine Sitzbank im Boot und beschwerte die Kleidungsstücke mit seinem Degen, damit der Wind sie nicht fortblies. Es fiel ihm schwer, sich nicht sofort in die Brandung zu stürzen, denn er war lange im Binnenland gewesen. Fast schon zu lange. Schon seit Tagen hatte er das Gefühl, ersticken zu müssen, und er wusste, dass es für ihn nur ein Heilmittel gab: Er musste schnellstens in das Meer. Nur das Salzwasser war in der Lage, seinem Körper die alte Kraft zurückzugeben.

      Fast drei Wochen lang war Taureau mit der Mietkutsche unterwegs gewesen. Gut eine Woche hatte die Reise von Saint Malo nach Versailles gedauert, dann hatte der Minister ihn fünf Tage lang warten lassen und wieder eine Woche hatte er für die Rückreise gebraucht. Zwanzig qualvolle Tage ohne die Gelegenheit, sich die Ausdünstungen von Mensch und Tier vom Körper zu spülen. Schlimmer noch: Auch ohne die Zufuhr lebenswichtiger Nährstoffe über die Haut. Schon in der zweiten Woche war der Mangel von Tag zu Tag deutlicher hervorgetreten. Immer qualvoller war es geworden, auf das Meer zu verzichten, und jetzt war der Zustand des Mannes fast schon lebensbedrohlich.

      Die ganze Reise war eine einzige Zumutung gewesen, aber dafür war der Pakt mit dem Minister jetzt wieder erneuert. Taureau hatte den vereinbarten Anteil an seinen Gewinnen an den Beamten ausbezahlt.

      Die Kaperfahrer waren im vergangenen Jahr so aktiv und erfolgreich gewesen, wie nie zuvor. Von Segeltuch über Tauwerk bis hin zu Proviant hatten sie alles gebraucht, was Taureaus Kontor anbot. Die Korsarenkapitäne waren bereit gewesen, hohe Preise für die Waren zu bezahlen, um nur ja wieder schnell auf See zu kommen.

      Die Geschäfte waren also gut gelaufen und der Minister war mit seinem Anteil zufrieden gewesen. Damit stand einem weiteren Jahr voller saftiger Gewinne nichts mehr im Weg, denn beim Magistrat lag nun ein Schreiben des Ministers, in dem die Offiziellen der Stadt angewiesen wurden, dem Schiffsausrüster Adrien Taureau im folgenden Jahr jede nur erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen. Zölle und Steuern waren damit kein Thema mehr und es war ihm klar, dass er quasi über Nacht zum mächtigsten Kaufmann der Stadt geworden war. Besser hätte es gar nicht laufen können. Jetzt musste er nur noch die tödliche Schwäche besiegen, die während der Reise mehr und mehr von ihm Besitz ergriffen hatte.

      Taureau stand noch über das Boot gebeugt, als plötzlich ein sirrendes Geräusch in der Nähe erklang. Es war kaum mehr als das Zirpen einer Grille, aber Taureau wusste sofort, was es zu bedeuten hatte. Hastig versuchte er, sich zu ducken, als er auch schon den Einschlag des Pfeils in seinem Rücken spürte. Haut und Muskeln zerrissen, Knochen zersplitterte. Der Schmerz nahm Taureau den Atem und er fiel mit einem Aufstöhnen vornüber in den Sand.

      Hinter einem der Büsche in der Nähe wurde es lebendig, und eine Gestalt in einem weiten, grauen Umhang trat hervor. Taureau erkannte einen jungen Mann, der eine Armbrust trug. Bevor der Bewaffnete weiterging, spannte er die Sehne neu und legte einen Bolzen ein. Als er damit fertig war, näherte er sich fast im Schlenderschritt.

      „Nun, Darksider“, begann er ohne Gruß zu reden, „wie schmeckt der Tod?“

      „Wer bist du?“

      „Unwichtig! Ich bin ein Jäger, das ist alles, was du wissen musst.“ Der Jüngling trug keinen Degen an seiner Seite, sondern ein sehr großes, starkes Messer mit breiter Klinge, ähnlich denen, wie es Jäger benutzen, um das erlegte Wild aufzubrechen.

      Er sah so jung aus. So jung und voller Lebenskraft. Gier flackerte in dem Verletzten auf, dessen eigenes Leben in dünnem Strom im Sand versickerte.

      „Jäger und Feiglinge kommen nie allein. Wo sind deine Bluthunde? Lauern sie auch im Gebüsch?“

      „Feigling?“ Der Jäger kam einen Schritt näher und hob die Waffe. „Ich brauche keine Helfer, Taureau. Ich bin dir ganz allein entgegengetreten.“

      „Ein Schuss aus dem Hinterhalt.“ Taureau sprach absichtlich leise. „Das nennst du entgegentreten? Hättest du wirklich den ehrlichen Kampf zwischen Männern gesucht, würdest jetzt du an meiner Stelle hier liegen.“

      „Warum sollte ich das tun?“ Der Jäger war noch zwei Schritt weit näher herangekommen, um den Sterbenden besser verstehen zu können. „Du bist kein Gegner für mich - kein Mensch. Du bist eine Laune der Natur, Darksider. Du verlängerst dein Dasein auf unnatürliche Weise. Du stiehlst Lebenskraft von Menschen. Für dich gibt es keinen Platz im Licht der Schöpfung. Darum hat der Heilige Pakt deinen Tod beschlossen.“

      „Es gibt mich, also bin ich ein Teil dessen, was du Schöpfung nennst.“

      „Das ist ein tollwütiger Fuchs auch.“ Der Jäger beugte die Knie und hockte sich in knapp fünf Meter Entfernung auf die Fersen. Die gespannte Armbrust mit dem neu eingelegten Bolzen war dabei die ganze Zeit auf sein Opfer gerichtet, aber er war in dem Einflussbereich der Stimme Taureaus.

      Der Junge war leichtsinnig. Ein ungestümer Draufgänger, der dachte, dass durch seinen Treffer aus dem Hinterhalt bereits alles entschieden sei. Ein älterer, erfahrener Jäger hätte es niemals gewagt, sich ohne Rückendeckung einem Darksider zu nähern. Hatte ihm denn niemand gesagt, dass die hypnotischen Fähigkeiten der Darksider mindestens genauso gefährlich waren, wie ihre gewaltigen Körperkräfte? Oder wusste er es und glaubte ernsthaft, dass er stark genug sei, dem Einfluss auf seinen Geist widerstehen zu können?

      „Ich sterbe. Lass uns Frieden schließen“, versuchte Taureau die Wachsamkeit des Jägers zu mindern, aber seine Stimme klang rau und brüchig. Es wurde ihm klar, dass er so keinen hypnotischen Einfluss ausüben konnte.

      „Ich spüre, wie du nach mir greifst.“ Der Jäger lächelte. „Aber du wirst mich nicht erwischen. Du bist schon zu schwach.“

      Der Verletzte nahm eine Bewegung hinter dem Jäger wahr. Ein Mädchen von acht oder neun Jahren kam über die flache Düne. Es zog an einem kurzen Strick einen kleinen Korbschlitten hinter sich her, der im Moment allerdings noch leer war und taumelnd über den Sand tanzte. – Eine Treibholzsammlerin. Das konnte die Chance sein, die er brauchte. Vorsichtig und langsam spannte Taureau seine Muskeln an.

      Das Mädchen entdeckte die beiden Männer und blieb schlagartig stehen. Der verletzte Mann am Boden, das Blut, der andere Mann mit der Waffe, das alles erschreckte sie zutiefst. „Nein!“, rief sie laut aus und schlug sofort die Hände vor den Mund.

      Der Jäger sprang auf und wirbelte zu dem Mädchen herum. Als er erkannte, dass von der Kleinen keine Gefahr drohte, schnellte er wieder herum, aber es war schon zu spät. Sofort war Taureau aufgesprungen und unter Aufbietung all seiner Kräfte blitzschnell auf den Jäger losgestürmt.

      Die Waffe beschrieb