DIE GABE. Michael Stuhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Stuhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847627234
Скачать книгу
geb’s auf. Kommentarlos und resigniert ergebe ich mich in mein Schicksal.

      Als ich angeknattert komme, räumt Madame Ledoux gerade die Stühle vor ihrem Laden zusammen. „Ah Lana“ strahlt sie mich an, „was wurde denn diesmal vergessen? Lass mich raten.“ Sie richtet mit übertrieben hochgezogenen Augenbrauen und gespitztem Mund den Blick nach oben. „Ein Baguette“ In gespielter Erkenntnis schnellt ihr Zeigefinger vor, während sie mich mit großen Augen anschaut.

      „Ja Madame“, antworte ich lahm. „Wie immer.“ Hier das Baguette, beim kleinen Ed-Discountmarkt um die Ecke die Paprika oder die Zwiebeln. Und alle finden es immer furchtbar witzig, wenn ich kurz vor Ladenschluss noch angedüst komme.

      Die Laternen zwischen den Straßenbäumen beginnen schon zu glimmen, als ich in unsere Straße einbiege. Schon von weitem sehe ich einen Mann, der auf der anderen Straßenseite vor unserem Haus steht. Aufmerksam sieht er nach oben.

      Schnell schalte ich den Motor aus und schiebe die Blaue Elise leise das letzte Stück die Straße entlang. Ich versuche im Schatten der Bäume zu bleiben und schlüpfe schließlich durch die große Haustür in den Hinterhof. – Hat er mich jetzt gesehen, oder nicht? - Wer ist das überhaupt? – Warum beobachtet der unser Haus?

      Mit klopfendem Herzen schließe ich möglichst geräuschlos die hohe Tür hinter mir und hoffe, dass dieser Kerl es nicht auf mich abgesehen hat. Er macht mir Angst.

      Mit zitternden Fingern schließe ich Elise ab und hetze, zwei Stufen auf einmal nehmend, in unsere Etage hinauf. Was ist das für ein Typ da draußen und warum starrt er unser Haus an? Das Minutenlicht geht aus.

      Ich öffne vorsichtig ein Treppenhausfenster und spähe auf die Straße hinunter. Der Mann ist nicht mehr zu sehen. Erleichtert atme ich auf. Wahrscheinlich habe ich mich nur geirrt. Was Bea aber auch heute so alles erzählt hat. Da muss man ja ganz durcheinander kommen. Langsam gehe ich die letzten Stufen hoch zu unserer Wohnung.

      „Hallo Lana“, Papa steht an der Flurgarderobe und zieht seine Jacke aus. „Lieb, dass du den Einkauf erledigt hast, aber ich hätte doch auch ein Baguette mitbringen können“, begrüßt er mich.

      Ach, diese Möglichkeit hätte auch bestanden?

      Didier lugt um die Ecke und grinst. Ich blitze ihn böse an und er verschwindet.

      „Wo hast du es denn überhaupt?“, fragt Papa.

      „Was?“ schnaufend lasse ich mich auf dem Boden nieder um endlich meine Chucks auszuziehen.

      „Na das Baguette.“ Mein Vater sieht mich mit großen Augen an und breitet fragend die Arme aus.

      „Och nein!“ stöhne ich auf und lehne den Kopf verzweifelt an die Flurwand. „Hinten auf dem Gepäckträger.“

      Didier lacht in der Küche laut auf. Ich höre Maman sagen: „Das kannst du jetzt aber mal holen Didier.“

      Didier stapft zur Flurtür. Im Vorbeigehen wirft er mir seinen oskarreifen Schmollblick zu: vorgeschobene Unterlippe und eng zusammengezogene Augenbrauen. Er sieht gar nicht mehr so belustigt aus, und ich weiß auch warum: Im Hinterhof ist es jetzt schon recht finster und Didier hat Angst im Dunkeln.

      Er sieht ziemlich verzweifelt aus, als er die Korridortür hinter sich zuzieht. Draußen höre ich das Tacktacktack des automatischen Lichtschalters und denke daran, dass auch er nicht den Aufzug nehmen wird, aus denselben Gründen wie ich. Zu Fuß wird er es nicht bis unten schaffen, ohne im Dunkeln zu stehen und nach dem Lichtschalter tasten zu müssen.

      Mir fällt ein, wie er mich eines Nachts im Urlaub trösten wollte, als ich einen Albtraum hatte. Da hatte ich von Diego geträumt - und von einem Turm mit merkwürdigen unterirdischen Gängen - und Diego wollte mir plötzlich weh tun, obwohl ich ihn doch so sehr liebe. Es war ein schrecklicher Traum gewesen. Ich hatte solche Angst gehabt. Und plötzlich war Didier in meine Schlafkabine gekrabbelt und war ganz besorgt gewesen, weil ich im Schlaf so gestöhnt und geschrien hatte.

      „He Didier, warte!“, rufe ich im Treppenhaus. Als ich ihn erreiche, geht gerade mit einem letzten Tack das Licht aus.

      „Danke Lana“, murmelt Didier, als ich das Licht wieder anschalte.

      „Schon gut, ich weiß ja, wie das ist“, gebe ich zurück. Wir stehen auf dem Treppenabsatz und grinsen uns verschwörerisch an, als sich mit einem Mal der Aufzug mit einem Schnaufen in Bewegung setzt. Didier zuckt zusammen und zieht erschrocken die Luft ein. „Ich hasse dieses Ding!“

      „Ich auch, komm jetzt, sonst geht das Licht gleich wieder aus.“

      Der Aufzug keucht an uns vorbei und als wir unten ankommen, bugsiert Jean-Claude gerade leise fluchend seine Staffelei, den Farbkoffer und die Leinwände in den Lift.

      „Ça va, Jean-Claude! Sollen wir helfen?“

      „Ça va! Geht schon, Lana, danke“, grinst er mich an und schiebt sich die Brille aus der Stirn. Schief bleibt sie in seiner wuscheligen grauen Mähne hängen.

      „Was verkauft?“

      „Ja, ein bisschen was“, grinst er und kratzt sich am Kopf. „Und das mit dem Kaffee, das machen wir wirklich bald mal“, ruft er mir noch zu, als er die doppelten Gitter der Aufzugtür rasselnd schließt. Das Geräusch hat was von Kerker und ewiger Gefangenschaft an sich.

      „Okay, geht schon klar“, rufe ich schaudernd zurück.

      „Was ist denn mit dem Kaffee?“ fragt Didier neugierig, als wir auf den dunklen Hinterhof hinaustreten, der nur von einer schwachen Glühbirne beleuchtet wird.

      Ich winke ab. „Ach, nichts Besonderes. Jeden Morgen, wenn ich zur Schule fahre, sitzt er im Le Mary und schlürft seinen Kaffee, bevor er zum Place du Tertre geht, weißt du. Und dann ruft er mir immer zu, dass er mich abends zu einem Milchkaffee einladen würde. Aber er vergisst es immer. Ich frage mich sowieso, wie er von den paar Cent, die ihm die Portraitmalerei einbringt, leben kann. Da sind so viele Konkurrenten.“

      „Weißt du noch, wie er einmal ein Portrait von dir gemalt hat?“

      „Klar, und dann hat er es mir geschenkt, anstatt Geld dafür zu verlangen.“ In Gedanken daran schüttele ich den Kopf. So ist Jean-Claude.

      Wir befreien das etwas verbogene Baguette von Elises Gepäckträger und gehen wieder ins Treppenhaus. Das Licht geht aus, als wir die untersten Stufen erreichen. Von ganz oben hört man das Klirren eines auf die Fliesen prallenden Schlüssels und ein gedämpftes „Merde!“

      Ich mache das Licht wieder an und höre von oben ein heiseres „Merci Lana!“

      Didier und ich müssen kichern. Jean-Claude wohnt ganz oben unter dem Dach in einer winzigen Wohnung. Auf seiner Etage ist keine Beleuchtung mehr und so ist er auf den Lichtschein des unteren Treppenabsatzes angewiesen, um das Schlüsselloch zu finden.

      „Wollen wir es wagen Didier?“

      „Was?“, Didier wird ganz blass, denn er weiß genau, was ich meine. Leider ist auch er, genau wie ich, mit zuviel Fantasie gesegnet. Na ja, er mit seinen elf Jahren darf das ja im Grunde auch noch sein, aber ich mit fast achtzehn? Eigentlich wirklich peinlich.

      „Na ja, irgendwann müssen wir diese alberne Angst vor dem Fahrstuhl doch mal los werden, schließlich fährt Jean-Claude jeden Tag damit und er lebt noch.“

      Didier räuspert sich. „Du hast Recht“, sagt er schließlich, „Wagen wir es, Lana!“

      Ich drücke den Knopf und Didier bringt sich beim Lichtschalter in Position, um im richtigen Moment für Helligkeit zu sorgen.

      Zischend kommt der Lift in dem vergitterten Schacht in der Mitte des Treppenhauses heruntergerattert. Er stoppt in dem Augenblick, als das Licht ausgeht. Einen kurzen Moment blinzeln die rot leuchtenden Etagenknöpfe im Dunkel wie die Augen eines gierigen Ungeheuers. Ich habe das sichere Gefühl, dass die Aufzugskabine sachte atmet und sich dabei rhythmisch ausdehnt und wieder zusammenzieht.

      Ich ziehe die Scherengitter auf,