Die Recherche. Werner Siegert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Siegert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738069792
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junge Frau verschwand in der Kabine. Sofort wandte sich die topgekleidete Dame Bettina zu und begrüßte sie mit einem wissenden Lächeln. Ohne zu zweifeln hatte sie in ihr Bettina erkannt, den Kontakt aus dem Internet. Ihre Menschenkenntnis musste ihr verraten haben, dass eine so korrekt gekleidete Dreißigjährige im Ernst nicht einen solchen Blusenfummel kaufen würde, wie ihn Bettina in der Hand hielt. Bettina war enttarnt und offenbar von Edwina schon beobachtet worden war, als sie auf der anderen Straßenseite ihrerseits den Laden im Blickfeld hatte.

      Die junge Kundin schob den Vorhang zur Seite. In der Tat kleidete sie das von Edwina empfohlene Gewand äußerst vorteilhaft. Die glättete hier noch eine Falte, strich über den Po, zupfte den Stoff so zurecht, dass der Busen besser zur Geltung kam, stellte das Krägelchen noch ein bisschen steiler, hielt ein Tuch als Accessoire um den Hals. Die Augen der jungen Frau leuchteten sichtbar auf, als sie sich vor dem Spiegel sah.

      „Ja, aber das kann ich wahrscheinlich gar nicht bezahlen!“

      „Aber natürlich! Es ist ja nicht wesentlich teurer als das Stück, das Sie von der Stange genommen hatten. Es ist ja second-hand, aber wohl nur einmal oder gar nicht getragen, und natürlich gereinigt. Ich beziehe ja die Ware von befreundeten Geschäften in anderen Städten. Es gibt Kundinnen in den ganz exklusiven Modegeschäften, die leihen sich manchmal mehrere Roben aus, tragen sie vielleicht einen Abend zu einem Empfang und bringen sie am nächsten Tag zurück. Legen augenzwinkernd einen Scheck daneben. Man kennt sich ja schon. Aber es gibt eine strikte Vereinbarung: Dieses Stück darf nicht noch einmal in dieser Stadt von irgendeiner Frau getragen werden. Dann schickt sie es mir. Oder einer Kollegin in Hamburg. Nur so werden diese Kreationen erschwinglich. Glamour too heißt ja, auch Sie sollen sich Glamour leisten können.“

      Sie wurden sich handelseinig. Das Seidentuch kam als Geschenk mit in die Tüte. Die hübsche Kundin verließ sichtlich beschwingt das Geschäft – und Edwina konnte sich ganz sicher sein: Diese Frau kommt wieder und wieder.

      Bettina hatte die Modistin sehr genau beobachtet, wie sie den Körper der Kundin umspielt hatte. Das Zupfen hier, das Glätten dort, das beiläufige Ordnen der Frisur, nachdem sie das Tuch um den Hals geschlungen hatte. Wenn Edwina wirklich lesbisch veranlagt war, dann müsste sie eigentlich bei ihrer Kundschaft jeden Tag zahlreiche Gelegenheiten finden, Kontakte zu knüpfen und die Aura zu spüren, die suchenden Frauen ganz sicher zu eigen war.

      Nachdem sie sich beide richtig vorgestellt hatten, ein an sich überflüssiges Ritual, nahm Edwina ihr die Hemdbluse ab und sie zogen sich in den hinteren Teil des Ladens zurück. Dort lud sie Bettina zu einem herrlich aromatischen Tee ein, mit erlesenem Gebäck. Erlesen war hier alles. Die Frau selbst, die Ware, das Flair, die Dekoration, die Präsentation. Sie musterten sich.

      „Sie sind Journalistin?“

      „Ja, woher wissen Sie das?“

      „Ich könnte sagen, das hätte ich im Gespür, sozusagen in den Fingerspitzen. Aber Google hat es mir verraten. Dort sind einige Artikel von Ihnen zu finden! – Ja, und nun nur beruflich bei mir?“

      Bettina mühte sich, nicht so erröten. Sie konnte ihre Verlegenheit nicht verbergen.

      „Als Journalistin ist man eigentlich jeden Tag auf der Suche nach Themen. Man ist jeden Tag auf Recherche. Ihre wunderbare Boutique wäre zum Beispiel ein interessantes Thema für sich.“

      „Aber gesucht haben Sie was anderes auf dieser .... Lesbenseite?“

      „Ja, offen gesagt ja. Es gibt ja nicht die Lesbe. Es gibt sicher zigtausend verschiedene Frauen, die sich mehr oder minder dazu zählen. Fanatische, Feministinnen, Suchende, Enttäuschte, Einsame, Künstlerinnen ....“

      „.... und selbst?“

      Wieder huschte Bettina die Röte ins Gesicht. Und selbst? Wusste sie es? Befand sie sich nicht in einem Strudel der Verwirrungen? Mandys schweißtriefende Brüste, ihr zotteliges Schamdreieck über schwabbeligen Schenkeln – da saß der Schock noch tief.

      „Ich würde mich eher unter die Suchenden zählen, unter die Irritierten und Verwirrten!“

      Eine Kundin betrat das Geschäft. Edwina entschuldigte sich. Eine vollschlanke Frau schaute sich im Laden um. Mitdreißigerin. Wie wohl Bettina sie nur von weitem sehen konnte, fiel ihr das üppige Dekolleté auf. Wogende Brüste – nein, das wäre ganz sicher nicht, was sie suchte. Und Edwina? Hatte die überhaupt Brüste? Die waren ihr jedenfalls noch gar nicht aufgefallen.

      So sehr Edwina sich vorhin für die junge Frau ins Zeug gelegt hatte, so wenig schien sie diesmal interessiert zu sein, ihr eine größere Auswahl zu offerieren. Mit zwei Blusen verschwand die Kundin in der Kabine. Schon kurz darauf kam sie wieder raus und war zum Kauf entschlossen. Die Kasse rasselte und Edwina kam zurück.

      „Gottlob hat sie die beiden Blusen mitgenommen. Bei solchen Frauen habe ich immer Angst, dass sie dieses und jenes anprobieren und wieder weglegen. Ich muss dann die Teile einsammeln und in die Reinigung bringen, so verschwitzt wie die sind. Ich habe einen außerordentlich empfindlichen Geruchssinn. Wenn ich mir vorstelle, ich solle so ein Top anprobieren, das nach Schweiß riecht oder nach billigem Parfum – ich würde aus dem Laden fliehen und ihn nie wieder betreten .... aber wir sprachen über Sie! Verwirrt? Irritiert?“

      „Ja, bis mich mein Chef vor ein paar Tagen mit dieser Recherche betraut hatte, war Lesbentum für mich kein Thema. Jedoch hatte ich auch genug von der Männerwelt. Enttäuschungen, Enttäuschungen, Verletzungen. Am allerliebsten wäre es mir, ich würde zu einem Neutrum mutieren, ohne jeglichen Drive nach hier oder nach dort!“

      „Das, genau das, liebe Bettina, ich darf Sie doch so anreden? – habe ich bisher versucht, konsequent zu leben. Wissen Sie, ich bin eigentlich die lesbischste Lesbe, die man sich vorstellen kann – wie man’s nimmt. Können Sie sich vorstellen, dass ich mit meinen 38 Jahren noch Jungfrau bin?“

      Wieder betrat eine Kundin den Laden. Wieder konnte Bettina für ein paar Minuten ihren Gedanken nachgehen. Mit 38 noch Jungfrau? Diese hübsche, schlanke Frau? Nie von einem Mann verführt? Keine Jugendsünde? Nie auf Klassenfahrt gewesen? Nicht auf Studienreise mit Kommilitonen? Kein Gruppendruck? Was, du hast noch nie? In ihrer Klasse gab es so eine Keusche. Die hatte natürlich den Spitznamen Maria weg. Die lesbischste aller Lesbierinnen? Wieso muss sie dann inserieren? Eine Kontaktanzeige aufgeben? Gerade jetzt tätschelte sie wieder an der Kundin herum, die ganze Beinlänge hinunter. Da kann doch was nicht stimmen?

      Edwina kam zurück.

      „Na, habe ich Ihnen Rätsel aufgegeben? Also Sie müssen wissen, dass ich aus einem sehr verklemmten Elternhaus komme. Alles, was unter dem Bauchnabel angesiedelt ist, war ba! Baba! Schlimmstes Baba! Sündhaft, schmutzig, Todsünde. Deine Hände faulen ab, wenn du dich da anfasst, mehr als unbedingt erforderlich. Und dann: Waschen, waschen, waschen. Mit Kernseife! Und Wurzelbürste! Wenn wir Kinder gebadet wurden, war es eine schmerzhafte Tortur. Pinkeln und so weiter – schlimmste Folge der Erbsünde. Waschen, waschen, waschen – und nicht hinsehen. Nicht in die Kloschüssel gucken. Man wird blind. Oder stirbt – oder was sich ein Kind halt ausdenkt. Aber das Kind Edwina dachte noch weiter: Wenn ich nichts esse, dann kommt auch nicht das Unaussprechliche aus mir raus. Schon mit drei Jahren war ich magersüchtig! Den Erfolg sehen Sie ja heute noch an mir: kein Busen, kein Po. Schlank und rank! Alles Staffage! Na, und welcher Junge hätte sich für ein Mädchen ohne Titten interessiert? Ich wurde gehänselt, was eigentlich heißen müsste: gegretelt.

      Nun wollte ich es aber gerade wissen. Irgendwie wollte ich mich an meinen Eltern rächen, für die Enge, für die Verklemmung, dafür, dass ich nicht wie die anderen Mädchen aufwuchs. Ich ahnte nicht, dass alles nur meinem Gespött dienen sollte. Ein Junge tat so, als sei er wahnsinnig in mich verliebt. Er schrieb mir Briefe. Schob mir Zettel mit eindeutigen Botschaften zu. Schließlich trafen wir uns in einer Gartenlaube, als seine Eltern nicht zu Hause waren. Triumph, Triumph – auch ich Gerippe hätte sein Begehren erweckt. Mir wurde schon ganz anders, als ich unter seinem Bauchnabel den Penis aufragen sah! Unter dem Bauchnabel! Absolut verbotene Zone. Ich biss die Zähne zusammen, hob mein Röckchen. Er zog das Höschen halb herunter, da pullerte er schon los und beschmierte mich die ganzen Beine runter mit seinem Sperma.