Fast sah es so aus, als würde sich der große Hund vor ihm verlegen am Kopf kratzen.
„Naja, so einfach wird es leider nicht ... Tu mir einen Gefallen – lerne sie kennen, beobachte sie jetzt die nächsten Tage und mach dir einen Plan! Aber einen – der dieses Mal funktioniert!“ Pfatsch – autsch – da war er – der Seitenhieb. Etwas bedröppelt starrte er auf den Boden, ja, er hatte doch recht ... Aber er würde es überleben.
„Habe ich eine Deadline?“ Er war einfach doch professionell, ließ sich nichts von dem kleinen Schwachpunkt anmerken.
„Natürlich – der 24.12. - gibt es da Fragen? Sie müssen zusammen an einem Weihnachtsbaum sitzen! Und es muss dieses Jahr funktionieren – wir verlieren sonst unsere Glaubwürdigkeit!“
„Wir?“ Räubers Einwurf war frech. Sehr frech, denn ein Knurren, tief und nicht freundlich, drang aus dem Bernhardiner.
„Natürlich wir! Denkst du, wir leiden nicht auch unter Budgetkürzungen“, seine Stimme nahm einen resignierten Klang an. Der Boss stieß ein gefrustetes Prusten aus.
„Halt dich ran, ich weiß, dass du das kannst!“
Na prima, welch Motivation. Schon bei dem Gedanken verwandelte sich der große Hund vor ihm, wieder in eine ätherische, von innen leuchtende, körperlose Lichtgestalt.
Räuber schüttelte sich kurz, kratzte sich mit der Vorderpfote über die Augen und trotte zu dem letzten noch offenen freien Schalter.
1. Dezember Jessica
Irgendwo in einer mittleren Großstadt in Deutschland
Oh man! Jedes Jahr das Gleiche. Weihnachten kommt doch immer so unverhofft.
Nun, wenn man ehrlich zu sich selbst ist, natürlich nicht.
Nur als Jessica heute früh die Augen aufgemacht hatte und der Radiowecker ihr ein fröhliches Weihnachtslied in die Ohren schrie, wollte sie sich am liebsten die Decke zurück über den Kopf ziehen und sich verkriechen. Boar – musste es schon wieder soweit sein.
Zu allem Überfluss wurde der Tag auch nicht besser. Im Büro lief ein Rundschreiben ein, eine Erinnerung an die so sehr beliebte Weihnachtsfeier. In jeder Kaffeepause sprachen die Kolleginnen nur noch von dem Fest. Was sie anziehen wollten und wer, wen zum Wichteln gezogen hatte.
Das, fand Jessica, war der perfekte Zeitpunkt, um sich still und heimlich aus dem Raum fortzustehlen. Ihr war es gelungen, sich erfolgreich vor dem Griff in den Lostopf zu drücken. So konnte sie auch der Feier ungehindert fernbleiben. Ein genialer Schachzug.
Leider nicht genial genug.
In ihrem Büro räumte sie ihre Unterlagen gerade zusammen, um sie zum Abheften und Katalogisieren zu schaffen. Den Stapel Akten in der Hand ging sie auf die Tür zu, griff nach der Klinke.
Die Türklinke schon berührt, wurde sie ihr mit elanvollem Schwung aus der Hand gerissen. Reflexartig wollte sie doch noch nach ihr greifen, da fielen ihr, ihre gesamten Unterlagen zu Boden. Dutzende von Zetteln landeten weit verteilt auf dem weichen Teppich.
„Huch“, das erschreckte Wort rutschte ihrer Teamkollegin Sabine heraus. Sie sah auf die verstreuten Belege und verzog entschuldigend ihr Gesicht.
„Oh – Jessica, das tut mir leid!“ Gleichzeitig bückten sie sich, stießen beinahe noch mit den Köpfen zusammen, und begannen die Zettel aufzusammeln.
„Halb so wild! Das kann schon mal passieren. Was kann ich für dich tun?“ Damit kniete sie sich zu ihr und sie sammelten alles ein.
Fein säuberlich gestapelt überreichte Sabine ihr die Unterlagen.
„Ich wollte dich an die Weihnachtsfeier erinnern!“ Die ausgestreckten Hände von Jessica begannen leicht zu zittern. Hätte sie doch vorhin nicht daran gedacht. Sie schien es heraufzubeschwören oder zumindest anzuziehen.
Dieses Getue um die Weihnachtszeit.
Scheinbar dachten alle, jeder muss ständig Weihnachtslieder singen und lustige kleine Hüte tragen wollen. Die nächsten Worte ließen sie frösteln. „... und dich noch in den Lostopf greifen lassen! Das hätten wir beinahe verschwitzt!“ Innerlich stöhnend, verzog sie ihr Gesicht zu einer, sie hoffte wirklich freundlichen Grimasse.
„Ähm – wie nett!“ Ihre Stimme tropfte vor Sarkasmus. Gleich musste sie wieder intensiv lächeln. Zu freundlich und gezwungen wie nötig.
„Stimmt etwas nicht?“ Oh je, vielleicht war es doch eine Spur zu viel gewesen. Ihr leicht dahingeworfenes „Warum?“, schien Sabine aufhorchen zu lassen. „So viel Zynismus?“, fragte sie nach.
„Ach nur so!“ Jessica erhob sich und winkte mit der freien Hand abwertend. Sorgsam und bedacht legte sie die Blätter übereinander.
„Komm schon, hast du Angst, du könntest jemanden ziehen, bei dem dir nichts zum Wichteln einfällt?“ Entweder hatte Sabine eine unheimliche Gabe, Dinge zu übergehen, die peinlich sind. Oder sie bemerkte es nicht.
„Muss ich denn überhaupt ziehen?“
„Sei kein Spielverderber – natürlich musst du!“
Auffordernd hielt ihr Sabine eine kleine, oben offene, Glaskugel hin und nickte ihr einladend zu, damit sie doch endlich hineingreife.
Sie stand Sabine gegenüber, ihre Hände ballte sie leicht zu Fäusten und öffnete sie wieder – das mehrmals hintereinander. Es schien, als würde ein Kraftfeld die Glaskugel umgeben. Ihr Blut fing an, schneller durch ihre Bahnen zu rauschen. Ihr Puls pochte in ihren Ohren. Fast unmenschliche Überwindungskraft musste sie aufbringen, als sich ihre Finger vorsichtig in die Öffnung wagten und die kleinen Zettel berührten.
Einmal kurz tief durchatmen, die Augen schließen und durch. Der Zettel klemmte zwischen ihren spitzen Fingern. Sie lächelte gezwungen, nickte dabei ergeben mit dem Kopf.
Scheiß Weihnachten.
1. Dezember – Luke
Irgendwo in einer kleinen sehr ländlichen Stadt
„Mutter – bitte lass mich doch einmal zu Wort kommen!“ Luke verdrehte verzweifelt die Augen. Wie sollte er seiner Mutter begreiflich machen, dass er sich nicht so von ihr manipulieren lassen wollte. Natürlich, würde er – als guter Sohn – versuchen, ihre Wünsche über die Seinen zu stellen, Aber musste das ausgerechnet so ein Wunsch sein?
„Du weißt doch gar nicht, was alles auf dich zukommt, du wärst dann ganz alleine! Und ich weiß doch, dass du dich nicht um dich selber genug kümmerst! ... Du kannst doch ...“, in dem Moment schaltete er auf Durchzug.
Er kann nicht auf sich selbst achten? Wo lebte denn seine Mutter? Seit Jahren kümmerte er sich um seine Firma und um die Familie, um sie, seine jüngere Schwester und die Großeltern. Warum verlangte sie so einen Schwachsinn?
„Hörst du mir eigentlich zu?“ So missmutig, wie sie sich anhörte, hatte er sie lange nicht mehr erlebt. „Aber sicher doch ...“, war seine noch brummigere Antwort.
„Mein Großer, so versteh mich doch!“ Seine Mutter rappelte sich derweil aus ihrem bequemen Sessel auf, den sie seit ihrer Diagnose, vor ungefähr acht Wochen, kaum noch verließ. Erste Anzeichen waren diese ständige Müdigkeit, die immer schlechter heilenden kleinen Wunden, der schnelle extreme Gewichtsverlust, bis er