Der alte Mann und das Haus. Roland Exner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roland Exner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847614210
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schon im Obergeschoss, als die Klübers das Haus betraten.

      Der Alte lag im Bett, als sei nichts geschehen. Er richtete sich etwas auf und starrte auf das Glas in Elkes Hand. „Hab ich gerade aus dem Keller geholt“, sagte sie etwas verlegen. „Vorhin war ich in der Küche, da ging hier die Toilettenspülung. Das hört man durchs ganze Haus. Ich war in der Küche, die Klübers waren Gott sei Dank gerade im Hof. Sie müssen das hier benutzen, wenn ich nicht in der Wohnung bin.“ Er schwieg, schien sie nicht zu verstehen.

      „Na, wenn die Spülung geht, und die Klübers sehen mich irgendwo draußen, dann wissen die doch, dass hier jemand in meiner Wohnung ist!“

      Sie schob das Uringlas unter das Bett. „Sie dürfen nicht die Toilettenspülung ziehen, wenn ich irgendwo draußen bin…“

      Er rieb sich die geröteten Augen, stützte sich etwas und setzte sich aufs Bett, starrte auf den Boden, als stünde dort das Glas. Sie schwiegen. Elke rang nach Worten, aber sie fand keinen Anfang.

      „Ich habe Kartenspiele“, sagte sie leise, „hätten Sie Lust auf ein Spiel?“ Er strich sich wieder über die Augen und schüttelte den Kopf. „Oder wollen Sie was lesen?“

      Er schüttelte den Kopf. Er habe ja auch ein paar Bücher dabei.

       Rauchverbot

      Das Problem mit der Toilettenspülung hatten sie bald im Griff. Wenn sie wegging, stellte sie die Flasche auf den Klodeckel, so konnte der Alte nicht vergessen, dass die Spülung tabu war, wenn Elke nicht in der Wohnung war. Außer, wenn sie länger außer Haus war, dann musste der Alte selber daran denken, die Flasche wieder auf den Klodeckel zu stellen. Das große Geschäft war offenbar ein seltenes Ereignis, alle zwei, drei Tage, der Alte aß ja auch sehr wenig. Zum Frühstück eine halbe Scheibe Brot, und vom einem Teller Suppe nur ein paar Löffelchen.

      Elke hatte in der einen Woche, da der Alte nun in ihrer Wohnung war, alle Angst vor ihm abgelegt, aber dafür wuchs ständig die Angst vor Entdeckung. Der verschlossene Brief mit dem Schlüssel, den sie Frau Klüber zur Verwahrung gegeben hatte, schien derzeit die größte Gefahr. Plötzlich fiel ihr ein, es war Freitag, Discotag, das hatte sie in der Aufregung ganz vergessen, am Abend würde dieser Jörg kommen, um sie abzuholen. Sie spürte, dass sie gleich laut losheulen musste; sie lief eilig in die Scheune, kauerte sich in die hinterste Ecke, presste ihre Schürze ins Gesicht und wimmerte, bis keine Träne mehr floss. Sie stand auf, klopfte ihre Kleider ab, schaute auf die Uhr. Es war schon nach Fünf, die Klübers waren Gott sei Dank mit dem Auto weggefahren. Sie ging wieder ins Haus. Das Telefon… sie zögerte... legte den Hörer wieder auf. Sie setzte sich ein paar Minuten an den Küchentisch. Dann nahm sie – diesmal ohne zu zögern - den Hörer fest in die Hand und rief Jörg an. Es ginge heute nicht, erklärte sie, ihre Stimme bebte ein wenig; sie müsse wegen einer Familienangelegenheit nach München fahren, und überhaupt habe sie keine Lust mehr zu so einer Beziehung. „Was? Spinnst du?“, schrie es aus der Muschel.

      Sie legte auf, blieb einige Sekunden bewegungslos stehen, nahm den Hörer wieder ab und legte ihn neben das Telefon. Sie atmete heftig, setzte sich wieder an den Tisch und schien zu erstarren. Es mochte eine Viertelstunde vergangen sein, da erhob sie sich vom Tisch, sich mit den Armen stützend, als gehorchten ihre Gliedmaßen nicht. Sie legte den Telefonhörer auf die Gabel und schleppte sich langsam die Treppe hoch. Der Alte konnte nicht in ihrem Zimmer bleiben, aber wo sollte er hin? Was sollte sie ihm jetzt sagen? Er lag auf dem Bett, war aber wach. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm. Lächelte, aber das quälte ihr Gesicht; ihre Haut war wie Pergament. Sie schwiegen; er stützte sich auf einen Ellenbogen, mit der anderen Hand wollte er die ihre fassen, sie streckte sie ihm entgegen, ihr fiel auf, er müsse gekämmt werden – er schaute sie mit seinen entzündeten, wässrigen Augen lange an, bis sie schluchzte, und dabei das Kinn an die Brust zog. Er ließ ihre Hand los. „In zwei Tagen ist alles vorbei“, sagte er mit leiser, aber fester Stimme. „Ich danke Ihnen sehr, Gott schütze sie.“ Wieso in zwei Tagen alles vorbei sein solle, lag ihr auf der Zunge, aber sie sagte nichts, streichelte ihn über die Haarsträhnen, holte einen Kamm und fing an, ihn zu kämmen. Er schloss die Augen und es sah aus, als wäre er sanft eingeschlafen.

      Im Grunde hatte sie Feierabend. Die Sonne war hinter den Baumwipfeln versunken, es begann zu dämmern. Sie zog eine Jacke an, verschloss die Wohnungstür mit Schlüssel und Sicherheitsschlüssel, ging nach unten, räumte noch etwas in der Küche auf, schaute, ob mit den Tieren alles in Ordnung war und ging spazieren. Ein kurzes Stück auf der Landstraße, dann einen Feldweg, weiter den sanften Anstieg auf der Karolinenhöhe... sie sah weiter unten das Auto der Klübers heranfahren... sie bog in einen anderen Feldweg ein, ging bis zu den drei Karpfenteichen… eigentlich hätte sie nun stundenlang laufen können, einfach nur laufen, über Felder, durch Wald, aber sie bekam schreckliche Fantasien, wenn sie zu lange wegblieb. Zum Beispiel, dass der Alte vergessen könnte, die Flasche wieder auf den Klodeckel zu stellen, dass er also aufs Klo ging und spülte – und wie die Klübers reagieren würden. Und sie käme zurück, die Polizei wäre schon da… Sie kehrte um, aber als sie zurückkehrte, waren dennoch anderthalb Stunden vergangen, viel zu lange… Sie bekam ein beklemmendes Gefühl, als sie sich dem Haus näherte, bei jedem Schritt schien ein Dämon schwarzen Zement in ihre Seele zu gießen. Sie hatte Mühe mit der einen Stufe zur Eingangstür, sie polterte aber extra etwas herum, damit die Klübers sie bemerkten. Wenn etwas in der Luft lag, dann wollte sie gleich Gewissheit. Karl Klüber öffnete auch tatsächlich die Küchentür, aber er fragte nur, ob sie etwas mitessen wolle. Sie bedankte sich, sie wolle an diesem Tage nichts mehr essen. Sie seufzte und schaute die Treppe hoch. Kam dort oben das dicke Ende?

      Der Alte saß im Schaukelstuhl, wippte ein wenig, die Dielen knarrten, also konnte der Stuhl dort nicht stehen bleiben, und nicht auf den blanken Dielen. Er hatte zum Fenster hinausgeschaut: Hinter den Stallungen die Kronen der alten Obstbäume, dahinter das leicht abfallende Land mit Feldern, jetzt aber nur eine große Schneefläche, und der Ortskern von Trieb... Er schaute zu ihr hin, die leere Pfeife im Mund. „Ist alles in Ordnung?“ fragte sie leise. „Ja, ja“, krächzte er, „aber meine Pfeife möcht´ ich mal rauchen!“ Sie lachte, die Hand an den Mund pressend. „Sie wissen ja, auf dem Klo“, erwiderte sie. „Im Frühling mache ich oft die Fenster auf, und dann rauchen Sie ihr Pfeifchen im Schaukelstuhl...“

      Ob sie ihm etwas vorlesen könne, fragte sie. Sie solle sich doch keine Mühe machen, meinte er, an der leeren Pfeife saugend, sie habe genug Umstände mit ihm.

      Aber sie wollte sich nun selbst die Zeit vertreiben, wenn sie nun schon den alten Mann bei sich hatte. Nach ein wenig Hin und Her einigten sie sich darauf, dass sie ihm aus der Bibel vorlesen solle. „Und morgen können wir Schach spielen“, sagte er zu ihrer Überraschung, „da oben in der Dachkammer… im untersten Schubfach von dem Schrank, da ist ein schönes altes Schachspiel, mit Ritterfiguren, das können Sie später holen.“ Sie wollte eigentlich antworten, sie könne kein Schach, und bis sie es lerne, würde es Wochen dauern... Aber er war anscheinend von einer Sekunde zur anderen eingeschlafen. Schach-Spielen war wohl nur ein Wunsch, den er aus alten Zeiten geschöpft hatte.

       Unpassender Besuch

      Sie schrie, fuhr in die Höhe. Sie war in dem Sessel eingenickt. Sie war auf einem Baumstamm balanciert, Rechts und Links fast schwarzer Sumpf, an dessen Oberfläche Gasblasen zerplatzen. Plötzlich war der Baumstamm eine Riesenschlange...

      Sie atmete heftig, lief – Kreise ziehend – in der Wohnung herum, die Dielen knarrten. Der Alte war nicht aufgewacht, er lag unbeweglich im Tiefschlaf. Sie lauschte an der Tür... ob ihr Schrei von den Klübers gehört worden war? Draußen näherte sich das Motorengeräusch eines langsam fahrenden Autos... Sie wusste sofort, das war Jörg... Der Motor wurde ausgestellt, eine Tür knallte. Sie schaute aus dem Fenster, im Hof brannte Licht, da kam er auch schon. Gott sei Dank brannte in ihrer Wohnung kein Licht, weil sie noch bei Tageslicht eingeschlummert war. Sie eilte wieder zur Tür, vergewisserte sich, dass sie abgeschlossen war... Was nun? Er war schon auf der Treppe… Er klopfte ziemlich stark und rief „ Elke!“. Sie stand wie erstarrt. Er hämmerte nun mit der Faust an